Title: Schmerz
1Schmerz
- Überblick über Schmerz in der psychosomatischen
Medizin - Carola Göltz-Mohos, Samuel Lee, Daniel Nass
2Relevanz
- Schmerz ...
- ... ist der häufigste Grund eines Arztbesuches
- ... ist das wichtigste Signal der meisten
Erkrankungen - ... ist Sinneswahrnehmung und gleichzeitig
Emotion - ... führt ab einer gewissen Intensität zu Angst
und der völligen Fokussierung auf den Schmerz
bzw. dessen Linderung
3Was ist Schmerz?
4Periphere Schmerzentstehung 1
Noxe
- Nozizeptoren reagieren auf schwellenüberschreitend
e Reize - Ein Signal wird zum Rückenmark bzw. spinalen
Trigeminuskern gesendet - Proinflammatorische Mediatoren werden lokal
ausgeschüttet (Substanz P u.a.)
Immunaktivierung
Substanz P Vasodilatation, Sensibilisierung, Mas
tzelldegranulation
5Periphere Schmerzentstehung 2
Inflammation
- Bei Inflammation sinkt die Schwelle der
peripheren Nozizeptoren - Erkrankte Organe reagieren daher meist stärker
auf Reize. - schlafende Nozizeptoren werden aktiviert
- Es kommt zu räumlicher und zeitlicher Bahnung der
Signale - Normalerweise sehr unempfindliche Organe werden
sehr sensibel, z.B. Abwehrspannung der Bauchdecke
Substanz P Histamin Leukotriene Prostaglandine Bra
dykinin Laktat ROS Vasodilatation,
Sensibilisierung, Mastzelldegranulation
6Schmerzverarbeitung im RM 1
- Das 1. Neuron (im sensiblen Ganglion) projiziert
glutamaterg/perptiderg (v.a. Substanz P) an des
2. Neuron in Lamina I und V des Hinterhorns
2
2
1
7Schmerzverarbeitung im RM 1
- Damit Schmerzsignale weitergeleitet werden, muss
die Schwelle der 2. Neurone überschritten werden,
z.B. bei Inflammation im Viszero- o. Dermatom
Vorderseitenstrang An Thalamus, Formatio
reticularus Zentrales Höhlengrau
2
2
3
1
8Schmerzverarbeitung im RM 3
- Das 2. Neuron projiziert über das anterolaterale
System in Hirnstamm und Thalamus
Vorderseitenstrang An Thalamus, Formatio
reticularus Zentrales Höhlengrau
2
2
3
3
1
1
9Schmerzverarbeitung im RM 4
- Höhere Zentren erhöhen die Schwelle durch
Aktivierung enkephalinerger Neurone der
Substantia gelatinosa (Lamina II III) via
Hinterseitenstrang - ? So nimmt die Psyche Einfluss auf die
Schmerzwahrnehmung
Hinterseitenstrang serotoninerg von Raphekernen
2
SG
2
1
10Zentrale Schmerzwahrnehmung
- Die 2. Neurone projizieren in den Thalamus
- Kollateralen gehen an die Formatio reticularis
(ARAS) - Die thalamische Projektion in den sensorischen
Kortex macht den Schmerz und seine Lokalisation
bewusst - Die thalamische Projektion ins Cingulum führt zur
affektiven Schmerzverarbeitung
11Zentrale Schmerzintegration
- Höhere Zentren, v.a. im Frontallappen und
Hypothalamus, integrieren die Schmerz-Information - Sie regulieren die Schmerzschwelle und vegetative
Reaktionen, z.B. über das Hypothalamus-Hypophysens
ystem und VNS - Neuronenkreis aus Frontalhirn, Hypothalamus,
zentralem Höhlengrau, Raphekerne, Substantia
gelatinosa - Transmitter endogene Opiate (Enkephalin,
Endorphine, Dynorphine)
12Sonderform Neurogener Schmerz
- Schlecht auf Analgetikaansprechende Störungen des
Schmerzverabeitungssystems - Nach peripheren Läsionen (Diskushernie)
- Bei peripherer Polyneuropathie (DM. Alkohol,
Urämie) - Phantomschmerzen in Stümpfen
- Thalamischer Schmerz (sehr selten)
13Schmerz und Psyche 1
- Schmerzwahrnehmung und Schmerzverarbeitung sind
stark von der der Psyche abhängig - Bei körperlichem Stress steigt die
Schmerzschwelle - Kriegsverletzungen
- Sportverletzungen
- chirurgischer Eingriff
- Schmerz ist sehr placeboanfällig
- Aussicht auf Besserung kann Schmerz lindern
- Schmerz löst ungute Emotionen aus, v.a. Angst.
- Aussicht auf Schmerzen kann Schmerzen und Angst
auslösen - Schmerzwahrnehmung / -verarbeitung individuell
unterschiedlich - ? Dies macht Schmerz zu einem sehr
beeinträchtigenden Symptom!
14Schmerz und Psyche 2
- Oft schaukeln sich somatogene Schmerzen und
psychogene Reaktionen gegenseitig hoch. - Schmerzsymptome sind nicht selten Ausdruck rein
psychisch-emotionaler Störungen, v.a. als
Begleitsymptom bei Depressions- und
Angststörungen - Pathopsychologische Störungen, bei denen
Missempfindungen des Schmerzes im Mittelpunkt
stehen, fallen in die Obergruppe der somatoformen
Störungen
15Somatoforme Störungen 1
- Hypochondrische Störungen
- Somatisierungsstörungen
- Somatoforme funktionelle Störungen, darunter auch
somatoforme Schmerzstörung - Historische, oft unscharfe Synonyme für
somatoforme Störungen Hysterie,
psychovegetatives Syndrom, vegetative Dystonie,
psychosomatischer Beschwerdekomplex und
funktionelle Störung.
16Epidemiologie
Störung Prävalenz Geschlechtsverteilung Genetik,
Hypochondrie 4-6 Frauen Männer
Somatisierungs-störung 4-5 Frauen gt Männer
Somatoforme Funktionsstörung 10-25 Frauen Männer Familiäre Häufung
17Ätiopathogenese Psychoanalytisches Modell
- Übersetzung unbewusster seelischer Konflikte im
Rahmen der Konversions-Abwehrreaktionen auf den
Schauplatz des Körpers. - Insbesondere Ängste und Schuldgefühle stehen im
Mittelpunkt (geheime Bestrafungswünsche) - Durch primären (inneren) und sekundären (z.B.
sozialen) Krankheitsgewinn wird die
Konfliktspannung entlastet.
18Ätiopathogenese lerntheoretisches Modell
- somatoforme Störungen sind Folge eines sich
verstärkenden, erlernten Kreislaufes - Aufmerksamkeit wird auf eine bestimmte
körperliche Funktionen gelenkt - Dies führt zu körperlichen Reaktionen, welche
wiederum die Symptome verstärken können. - Andere Einflussfaktoren
- Somatische Vorerkrankungen
- Erkrankungen von Bezugspersonen
- Kultureller Hintergrund
- Beispiel Herzrasen
- Patient kontrolliert ständig Puls ? bekommt Angst
? Tachykardie Extrasystolen, evtl. Schmerzen - Vater an Herzinfarkt gestorben
19Risikofaktoren
- asthenisch-selbstunsichere Persönlichkeit
- Selbstwahrnehmung als hilflos und inkompetent,
überlassen wichtiger Verantwortungen an andere. - Alexithymie
- mangelnde emotionale Ausdrucksfähigkeit
- Somatoforme Störungen in der Familie
- chronische seelische / körperliche Überforderung
20Hypochondrische Störung
- Leitsymptom Krankheitsbefürchtungen.
- Definition Anhaltende übermäßige Angst, an einer
schweren Krankheit zu leiden, obgleich für die
meist unspezifischen Symptome keine
objektivierbare organische Ursache gefunden
werden kann. - Meist werden geringe, tatsächlich bestehende
Beschwerden, aufgebauscht und überbewertet - Patienten beschäftigen sich gedanklich fast
ausschließlich mit der vermeintlichen schweren
Erkrankung - Häufige Arztwechsel Doktor-Shopping
21Somatisierungsstörungen
- Leitsymptom Beschwerden in unterschiedlichen
Körperregionen und Organsystemen - Definition Multiple, mindestens zwei Jahre lang
bestehende körperliche Symptome, welche oft auch
nach umfangreicher Diagnostik keine ausreichende
organische Erklärung der Erkrankung bringen. - Jedes Organsystem und jede Funktion kann
betroffen sein, dabei wandeln sich die Symptome
über die Jahre hinweg häufig - DSM-IV
- 4 Schmerzsymptome in 4 Körperregionen /
-funktionen - 2 GIT-Symptome (N/V/D/C)
- 1 sexuelles Symptom (z.B. Dysmenorrhoe,
Hyperemesis gravidarum, erektile Dysfunktion) - 1 pseudoneurologisches Syndrom (z.B. Parese,
Krampfanfall)
22Somatoforme Störungen
- Leitsymptom umschriebene körperliche Beschwerden
- Chronisches (gt6m) oder akutes (lt6m) Syndrom mit
variablen, rezidivierenden und undulierenden
körperlichen Beschwerden, die von Schmerzen
dominiert werden, welche allerdings kein
objektivierbares pathologisches oder
pathophysiologisches Korrelat haben oder in
übertriebenem Verhältnis zu diesem stehen. - gravierende emotionale oder psychosoziale
Probleme werden zuweilen zugegeben, ein
Kausalzusammenhang meist abgelehnt - häufig hoher sekundärer Krankheitsgewinn
- Lokalisation der Beschwerden wechselt häufig und
ohne erkennbare Regelmäßigkeit - Sehr häufig findet sich assoziierte
Suchtstörungen (v.a. Alkohol, Analgetika,
Hypnotika)
23Differentialdiagnostik
- Hinweise auf psychogene Ursachen ergeben sich in
erster Linie aus der Anamnese - Essentiell Beginn, Dauer, Qualität, Intensität,
Lokalisation, Ausstrahlung, Modulierende Faktoren
des Schmerzes - ? Bei allen Schmerzen müssen zuerst bedrohliche
organische Ursachen ausgeschlossen werden!
24Differentialdiagnosen Thoraxschmerz
Störung Typische Befunde Häufigkeit
KHK Dauer AP 2-10min, unstabile AP 10-20min, Myokardinfarktgt30 min, Engegefühl, retrosternal, Ausstrahlung in Arm, Angst, EKG-Veränderung, Enzymwerte Häufigster Grund (45)
Lungen-embolie Minuten-Stunden, Abrupter pleuritischer Schmerz, meist unilateral, Risikofaktoren Dyspnoe, Tachykardie, Tachypnoe, Hypotonie, Hämoptyse, EKG-Veränderungen, charakteristisches Kontrastmittel-CT o. MRI Mittel-selten
Aorten-dissektion Extremer, abrupter Schmerz, Susstrahlung zwischen Schulterblätter, Diastolikum über Aortenklappe, charakteristisches Kontrastmittel-CT o. MRI selten
Pneumonie Sehr variabler Beginn und Dauer, Fieber, Husten, pleuritischer Schmerz, RG Mittel
Perikarditis Dauer Stunden bis Tage (undulierend), scharfer Schmerz, Reibegeräusche, Besserung im Stehen selten
GIT-Störungen Dauer GERD 10-60 min, Ösophagospasmus 2-30 min, peptisches Ulcus Tage, Cholezystitis Tage, Auftreten oft postprandial, brennender Schmerz, Besserung durch Antazida bei GERD und Ulcus Häufig
Brustkorb Variable Dauer, häufig druckschmerzhaft, Verschlimmerung bei Bewegung Häufig
Herpes Zoster Variabler Beginn und Dauer, Vesikuläres Exanthem, ein Dermatom Selten
Psychogen Variabler Beginn, Dauer meist gt30min, undulierend, oft kleines, gut lokalisierbares Gebiet, Hyperventilation, Anamnese mit Hinweise für seelische Störungen Selten
25Differentialdiagnosen Palpitationen
Störung Typische Befunde Häufigkeit
Extrasystolen Abrupte Herzsprünge und Aussetzer variabel
Sinustachykardie Beginn und Ende graduell variabel
Vorhofflimmern Länger andauernde, irreguläre Palpitationen. variabel
Herzinsuffizienz Kardiomyopathie Sehr variabel variabel
Ventrikuläre und supraventrikuläreTachykardien Ausbrüche irregulärer Schläge in kurzen Abständen variabel
Endokrine Veränderungen Hyperthyreose, Phäochromozytom, Hypoglykämie variabel
toxisch Tabak, Kaffee, Tee, Alkohol, Adrenalin, Ephedrin, Aminophyllin, Atropin, Scopolamin, Kokain, Ecstasy etc variabel
Psychogen Dauer über 15 min, assoziiert mit Angst. EKG zeigt u.U. Zeichen der Hyperventilation Häufigster Grund (15-20)
Pflichtuntersuchungen genaue Anamnese, EKG,
Langzeit-EKG, (Schilddrüsenwerte)
26Differentialdiagnose Kopfschmerz
- Epidemiologie
- 40 der Bevölkerung erleiden mindestens einmal im
Jahr schwere Kopfschmerzen (größtenteils harmlos) - 5 der neu auftretenden Kopfschmerzen haben
allerdings schwerwiegende Störungen zur Ursache - Verlaufsformen
- akuter Kopfschmerz (häufiger bedrohlicher
Ursachen) - chronischer Kopfschmerz
- chronisch rezidivierender Kopfschmerz
- progredienter Kopfschmerz (häufiger bedrohliche
Ursachen) - Anamnese
- - Dauer, zeitliches Auftreten, Lokalisation und
Qualität, weniger Intensität
27Kopfschmerzen, welche bedrohliche Ursachen
suggerieren
- die schlimmsten Kopfschmerzen aller Zeiten
- Die ersten schlimmen Kopfschmerzen
- Nackensteifigkeit
- Subakute Verschlechterung über Tage Wochen
- Neurologische Symptome
- Nausea/Vomitus Kopfschmerz
- Kopfschmerz bei Bücken, Anheben und Husten
- Nächtlicher und frühmorgendlicher Kopfschmerz
- Bekannte systemische Vorerkrankung
28Bedrohliche Kopfschmerzen
Störung Typische Befunde Häufigkeit
Meningitis Nackensteifigkeit, subakut progredienter Kopfschmerz, Photophobie, u.U. Fieber, N/V, Hauterscheinungen selten
Blutung Sehr abrupt einsetzender, starker Kopfschmerz, Nackensteifigkeit, schlechter AZ selten
Hirntumor Pulsierender, oft streng unilateraler Kopfschmerz, nächtliche und morgendliche Kopfschmerzen selten
Arteriitis temporalis Meist unilaterale, pulsierende Schmerzen, visuelle Veränderungen, Patient gt50 selten
Glaukom Zusammen mit Augenschmerzen selten
29Kopfschmerzen mit psychosomatischer Komponente
Störung Typische Befunde Prävalenz
Spannungs-kopfschmerz Bilateral, Kopf fühlt sich an als würde er zusammengepresst. Langsamer Beginn, Dauer Stunden bis Tage, episodisch oder chronisch. Reagiert gut auf Entspannung. Angst- und Depression häufig assoziiert. 10 FgtM
Migraine Benigne, rekurrente, meist pulsierende Kopfschmerzen, oft unilateral, oft mit N/V, oft bestimmte klar definierbare Aktivatoren und Deaktivatoren, teilweise mit Aura, pathognomisch sind 20-25min dauernde, C-förmige Skotome. Eng mit Stressbewältigung assoziiert, starke genetische Komponente 15F6M häufigste Ursache
Substanz-assoziierter Kopfschmerz Akut auftretende oder chronisch rezidivierende Kopfschmerzen bei Einnahme oder Abklingen der Wirkung einer Substanz typisch sind Alkohol sowie rebound-Kopfschmerzen bei (v.a. koffeinhaltigen) Analgetika und Ergotamin-Nutzung. Bei Abklingen der Substanz kommt es im Rahmen maladaptiver Prozesse zu Schmerzen, so dass die Substanz erneut eingenommen wird und sich der Pathomechanismus verstärkt. selten
30Diagnostik 1
- Klinische Hinweise 1
- multiple Beschwerden in unterschiedlichen
Organsystemen - Beschwerdenschilderung affektiv wenig adäquat
- wortreich, klagsam, pedantisch
- ohne wesentliche affektive Beteiligung
- Vorliegen psychischer Randsymptome
- innere Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten
- Erschöpfbarkeit, depressive Verstimmung
- Angst, Schlafstörungen
31Diagnostik 2
- Klinische Hinweise II
- lange Anamnese und Krankengeschichte (big
chart) - häufiger Arztwechsel (doctor-shopping)
- häufiger Symptom- bzw. Syndromwandel
- ähnliche Beschwerden bei näheren Bezugspersonen
- auffällige Diskrepanz zwischen objektiven
Befunden und subjektiven Beschwerden
32Differentialdiagnosen
- Körperliche Erkrankungen
- Multiple Sklerose
- Systemischer Lupus erythematodes
- akute intermittierende Porphyrie
- Hyperparathyreoidismus
- chronische systemische Infektionen
- (vorübergehende, fluktuierende, unspezifische
Symptome)
33Therapie
- keine allgemeingültige / spezifische Therapie
- verhaltenstherapeutische Methoden bessere
Erfolgsaussichten gegenüber tiefenpsychologischen
Verfahren - medikamentöse Behandlung (z.B. Benzodiazepine)
nur kurzfristig und unter sorgfältiger Kontrolle
34Therapieziele
- in der Regel nicht die vollständige Beseitigung
jeglicher körperlicher Symptome - Verständnis der psychischen Ursachen
- Beeinträchtigungen im persönlichen und sozialen
Umfeld möglichst gering halten - Verringerung von Medikamenteneinnahme,
verringerte Inanspruchnahme medizinischer
Einrichtungen
35Grundregeln
- Diskussion über die Realität der Beschwerden
vermeiden - Regelmäßige Kontakttermine
- Regelmäßige körperliche Untersuchungen
- Hilfsuntersuchungen nur bei klarer Indikation
- Behandlung gleichzeitig vorliegender psychischer
Störungen - Arztwechsel vermeiden