Title: T
1Täter-Opfer-Ausgleich und Neue Ambulante
Maßnahmen im deutschen (Jugend-)Strafrecht
- Prof. Dr. Frieder Dünkel
- 2008
2 Täter-Opfer-Ausgleich,Betreuungsweisung,
Soziales Training, gemeinnützige Arbeit -
Empirische Befunde zur Anwendungspraxis,
Praktikabilität und Evaluation
Die neuen ambulanten Maßnahmen nach dem
deutschen Jugendgerichtsgesetz
31. Historische Entwicklung und rechtliche
Grundlagen der neuen ambulanten Maßnahmen (NAM)
- Die NAM haben sich seit Ende der 1970er Jahre in
der alten BRD als Reformbewegung von unten
entwickelt. - Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis
- Zunächst vor allem im Rahmen sog. Brücke-Projekte
in Verbindung von Betreuungsweisungen (BW) und
gemeinnütziger Arbeit. - Der Soziale Trainingskurs (STK) entwickelte sich
seit Anfang, der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) seit
Mitte der 1980er Jahre ebenfalls vorwiegend im
Rahmen privater Jugendhilfeträger
4Historische Entwicklung (2)
- Mit dem 1. JGG-ÄndG von 1990 wurden die vom
Gesetzgeber positiv bewerteten Erfahrungen ins
Gesetz übernommen, - der STK und die Betreuungsweisung als
richterliche Weisung nach 10, - die gemeinnützige Arbeit als Weisung und Auflage
(AW/AA zudem als Form der informellen
Verfahrenseinstellung, vgl. 45 III) und - der TOA als informelle Verfahrenserledigung gem.
45 II sowie als richterliche Weisung.
5Historische Entwicklung (3)
- Die Auswirkungen des 1. JGG-ÄndG sind
beträchtlich - im Zweijahreszeitraum nach dem 1.12.1990 wurden
erheblich mehr neue Projekte registriert als im
vergleichbaren Zeitraum vor der Reform - siehe nachstehende Tabelle
6Zuwachsraten der Angebotsentwicklung vor und nach
dem 1. JGG-ÄndG von 1990 in den alten
Bundesländern
7Angebotsentwicklung in den neuen Bundesländern im
Maßnahmenvergleich
82. Quantitative Bedeutung der NAM im Überblick
- Ergebnisse der bundesweiten Bestandsaufnahme
(Dünkel/Geng/Kirstein 1998 DVJJ-Journal 1999) - Die NAM sind weitgehend flächendeckend etabliert.
- Die Angebotsstruktur in den neuen Bundesländern
ist derjenigen in den alten Bundesländern
vergleichbar. - Entwicklung der NAM in den neuen Bundesländern
(Steffens 1997 Schwerin-Witkowski 2003
Dünkel/Scheel/Schäpler in ZJJ 2003) - Trotz der wirtschaftlich problematischen Lage hat
sich der Ausbau des Maßnahmeangebots in den neuen
Bundesländern fortgesetzt. - Dabei lässt sich eine Verlagerung von der
Jugendgerichtshilfe hin zu freien Trägern
feststellen.
93. Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) Definition und
Zielsetzungen
- Bemühungen, die nach einer Straftat zwischen
Tätern und Geschädigten bestehenden Probleme,
Belastungen und Konflikte zu bereinigen. - Über die konkrete Schadenswiedergutmachung bzw.
Konfliktschlichtung hinaus sind Ziele des
Täter-Opfer-Ausgleichs - 1. Stärkung der Opferbelange im Rahmen der
Strafver-folgung, einschließlich der Vermeidung
weitergehender zivilrechtlicher
Auseinandersetzungen (wegen Scha-densersatz,
Schmerzensgeld). - 2. Verdeutlichung der Norm beim Täter (um
Neutra-lisationstechniken zu vermeiden und eine
aktive Übernahme von Verantwortung zu bewirken). - 3. Vermeidung, zumindest Milderung
strafrechtlicher Sanktionen.
10(No Transcript)
113.1 Zuweisungskriterien für den TOA in der
Praxis der Projekte
- Zugangsvoraussetzungen
- 1. Eindeutig geklärter Sachverhalt bzw. Täter ist
geständig. - 2. Im Regelfall persönlich geschädigtes Opfer.
- 3. Täter und Opfer stimmen dem Ausgleichsversuch
zu. - 4. Sog. Bagatellklausel, d. h. T-O-A nur, wenn
die folgenlose Einstellung des Verfahrens nicht
in Betracht kommt. - 5. Keine zu starke Schädigung des Opfers bzw.
kein zu schweres Delikt.
123.2 Rechtliche Anknüpfungspunkte des TOA -
Jugendstrafrecht
- 45, 47 JGG (vgl. insbesondere den 1990
eingefügten 45 II S. 2, der den T-O-A als
erzieherische Maßnah-me besonders hervorhebt). - 10 I Nr. 7 JGG (richterliche Weisung
dogmatisch be-denklich, da der T-O-A theoretisch
auch gegen den Willen der Beteiligten angeordnet
werden kann).
13Rechtliche Anknüpfungspunkte des TOA -
Erwachsenenstrafrecht
- 153 ff. StPO (insbesondere 153a StPO
Einstellung des Verfahrens nach erfolgter
Wiedergutmachung oder gegen ein Anerbieten von
Wiedergutmachungsleis-tungen). - 155a, 155b StPO (StA und Gericht prüfen in
jedem Stadium des Verfahrens, ob ein TOA
angezeigt erscheint) - 46a StGB (Absehen von Strafe, sofern max. 1
Jahr FS verwirkt ist, oder Milderung der Strafe
wenn ernsthafte Bemühungen oder tatsächliche
Leistungen i. S. v. TOA/Wiedergutmachung
vorliegen, oder das Opfer unter erheblichen
persönlichen Leistungen ganz oder zum
überwiegenden Teil entschädigt wurde)
14Rechtliche Anknüpfungspunkte des TOA
Erwachsenenstrafrecht (2)
- 23 StGB (Bewährungsauflage)
- 57 V StGB (bedingte Entlassung aus dem
Strafvollzug)
153.3 Jugendkriminalpolitische Grundsätze und
straftheoretische Ausgangspunkte des TOA
- Jugendkriminalpolitische Grundsätze
- Subsidiaritätsgrundsatz, vgl. 45 Abs. 2
(Vorrang der Diversion) - Vorrang des Erziehungsgedankens
(spezialpräventive Aspekte des TOA) - Straftheoretische Ausgangspunkte
- Der TOA entspricht spezial- und (positiv)
generalprä-ventiven Zielsetzungen, kann aber auch
als selbständige Dritte Spur (neben Strafen und
Maßregeln) angesehen werden (Konfliktschlichtungsp
aradigma als eigener Strafzweck)
163.4 Kriminalitätstheoretische Annahmen des TOA
- Kriminalitätstheoretische Annahmen
- Neutralisationstechniken
- Herabwürdigung,
- Entmenschlichung des Opfers,
- werden beseitigt,
- Hemmschwellen durch die Konfrontation mit dem
Leid des Opfers aufgebaut.
17Kriminalitätstheoretische Annahmen des TOA (2)
- Von großem Einfluss ist die Theorie des
Re-integrative Shaming von Braithwaite (1989). - Danach soll der natürliche Instinkt der Scham
genutzt werden, um das Unrecht zu verdeutlichen,
andererseits die Wiedereingliederung in die
Gemeinschaft durch Vergebung erfolgen - Christliche Parallele Hasse die Sünde, aber
liebe den Sünder! - Kriminalpolitische Konsequenzen
- Restorative justice, family group conferencing u.
ä.
183.5 Anwendungsbereiche des TOA
- Deliktsstruktur vor allem Körperverletzungsdelikt
e, Diebstahl, Sachbeschädigung, Beleidigung,
teilweise auch schwerere Delikte wie Raub. - Zunehmend wird der TOA auch im Bereich
mittel-schwerer Kriminalität angewendet, d. h.
die Befürch-tungen, dass der T-O-A auf
Bagatelldelinquenz be-schränkt bleibt, bestätigen
sich nicht. - Allerdings werden vorwiegend Ersttäter
einbezogen, mehrfache Wiederholungstäter dagegen
weniger.
193.6 Anwendungspraxis und Methoden des TOA
- Methoden
- Im Mittelpunkt steht die persönliche Begegnung
von Täter und Opfer in einem Schlichtungs- oder
Aus-gleichsgespräch (in Anwesenheit eines
Mittlers, Konfliktschlichters). - Der T-O-A ist kein Behandlungskonzept, sondern
eine soziale Kurzintervention, die allerdings
auch Lerner-fahrungen (Normverdeutlichung,
Vermittlung von Hemmschwellen durch
Bewusstmachung des Leids des Opfers) im Hinblick
auf das Verantwortungsbewusst-sein des Täters für
die Folgen eigenen Handelns und auf eventuell
vorhandene Feindbilder, Aggressionen oder Ängste
beider Parteien bietet.
20Arbeitsschritte bei der Durchführung des TOA
- 1. Kontaktaufnahme mit den Konfliktparteien
- Schilderung der subjektiven Sichtweise
- Klärung der Mitwirkungsbereitschaft
- Klärung der Vorstellungen über die
Wiedergutmachung - 2. Das Schlichtungsgespräch
- Gesprächseinstieg
- Aufarbeitung der Tat und der
Konfliktsituation - Verhandlung über eine Wiedergutmachung
- Gesprächsabschluss
- 3. Abwicklung der Wiedergutmachung
21Mögliche Probleme beim Täter-Opfer-Ausgleich
- Der Täter
- hat noch andere, u. U. schwerere Straftaten
begangen - beteiligt sich nur am TOA, um ein Strafverfahren
zu vermeiden, - verfügt nicht über ausreichendes Einkommen, um
einen materiellen Schaden wieder gut zu machen, - kommt nicht zum Erstkontakt,
- versucht den Vermittler zu vereinnahmen,
- bagatellisiert oder neutralisiert die Tat,
- hält die getroffene Vereinbarung nicht ein.
22Mögliche Probleme beim Täter-Opfer-Ausgleich (2)
- Das Opfer
- hat kein Interesse an einer Konfliktschlichtung
- erscheint nicht zum Erstkontakt
- übt über zivilrechtliche Forderungen Druck aus
- hat Angst vor dem Täter
- versucht den Vermittler zu vereinnahmen
- hat gegenüber dem Täter ein Strafbedürfnis
23Mögliche Probleme beim Täter-Opfer-Ausgleich (3)
- Probleme bzgl. anderer Verfahrensbeteiligter
- Eltern (oder andere Bezugspersonen) agieren im
Schlichtungsverlauf für Täter oder Opfer, - Eltern des Täters übernehmen den
Schadensausgleich, - Richter/Staatsanwalt macht bei der Zuweisung
eines Falles Vorgaben, - Anwälte erschweren oder behindern die
Konfliktschlichtung, - Dritte (z. B. Versicherung) melden Forderungen
an.
24- Fragen in Bezug auf das Schlichtungsgespräch
- Wie kann der Vermittler trotz der emotionalen
Anspannung einen Gesprächseinstieg fördern? - Wie kann die Tat im Schlichtungsgespräch
aufgearbeitet werden? - Wie weit sollte der Vermittler die Beteiligten
mit der Tat konfrontieren? - Wie kann der Vermittler im Schlichtungsgespräch
mit einem Machtgefälle zwischen den
Konfliktparteien umgehen?
25- Übergreifende Fragen
- Wie stark und/oder aktiv sollte der Vermittler in
den Konfliktschlichtungsverlauf eingreifen? - Wie bewältigt der Vermittler die Gratwanderung
zwischen Neutralität und Parteinahme? - Wie geht der Vermittler mit den unterschiedlichen
Normen aller Beteiligten (Täter, Opfer,
Staatsanwaltschaft, Gericht, JGH, TOA-Träger) um? - Wie kann der Vermittler im Konfliktschlichtungsver
lauf mit Tätern oder Opfern anderer Kulturen,
Normen, Schichten, Gruppen, anderen Geschlechts
umgehen?
263.7 T-O-A-Projekte
- Nach einer Umfrage von 1994/95 (LS f.
Kriminologie, Greifswald) gaben 70 der
Jugendämter in den alten, 88 in den neuen
Bundesländern an, T-O-A selbst oder über einen
freien Träger anzubieten (Bundesgebiet insgesamt
74). - Allerdings handelte es sich nur in 21 der Fälle
(d. h. der Jugendamtsbezirke mit TOA-Angebot) um
ein schwer-punktmäßiges Angebot (mit
spezialisierten Mitarbeitern, ABL 20, NBL
23). - Die jährlichen Fallzahlen bleiben nach wie vor
gering Die Hälfte der Jugendämter mit einem
T-O-A-Angebot bearbeitete 1993 nicht mehr als 8
Fälle pro Jahr, 75 nicht mehr als 20 Fälle. - Insgesamt hat sich in den neuen BL eine
vergleichbare Angebotsstruktur und Praxis
entwickelt.
27Angebotsverteilung des Täter-Opfer-Ausgleichs im
Bundesländervergleich
283.8 Fallzahlen
- Pro Sozialarbeiter ca. 80-100 Täter pro Jahr ca.
3-8 der anklagefähigen Verfahren werden erfasst.
Geschätzt wird, dass ca. 30 der
Jugendstrafverfahren für einen T-O-A (oder die
Wiedergutmachungsauflage) in Betracht kommen. - Das Potential für restitutive Sanktionen
insgesamt, ein-schließlich gemeinnütziger Arbeit
ist weit größer - 2003 erhielten allein 42 (n 42.220) der in den
alten Bundesländern nach JGG Verurteilten (n
101.562) eine Arbeitsauflage (die Zahl von
Arbeitsweisungen durch Urteil oder im Rahmen der
Diversion ist statistisch nicht ausgewiesen).
293.9 Ausgleichserfolge und Rückfälligkeit
- Ca. 60-75 der Fälle werden erfolgreich
abgeschlossen, d. h. mit einer einvernehmlichen
Regelung zwischen Täter und Opfer, - 70-85 der Ausgleichsfälle werden informell, d.
h. mit der Einstellung des Verfahrens erledigt.
Die Geschädig-ten zeigen sich ganz überwiegend
mit dem Ausgleich zufrieden. - Die Rückfallquote bei erfolgreichen TOA-Fällen
ist ten-denziell niedriger als bei
eingriffsintensiveren, insbeson-dere
freiheitsentziehenden Sanktionen, jedoch fehlt es
weitgehend an methodisch anspruchsvollen
empirischen Evaluationsstudien.
30Theoretische Funktionen des TOA im Hinblick auf
die Rückfallprävention
- Verdeutlichung der Grenzen durch Konfrontation
mit den Folgen der Tat (Normverdeutlichung), - Modellfunktion für verantwortliches prosoziales
Verhalten, - Förderung von Lernprozessen durch konformes
Verhalten, - Verstärkung der Akzeptanz gewaltfreier
Lösungsmöglichkeiten, - Förderung der Integration in die Gemeinschaft.
31Rückfallstudien zum TOA
- In einer Untersuchung von Dölling/Hartmann/Traulse
n (MschrKrim 2002, S. 185 ff.) wurden die
erfolgreichen TOA-Fälle zwar in vergleichbarem
Maß wie eine Vergleichs-gruppe erneut auffällig,
jedoch war die durchschnitt-liche Zahl der
Rückfälle mit 1,4 zu 2,1 signifikant niedriger. - Auch bei Kontrolle von den Rückfall
beeinflussenden Variablen wie materieller Schaden
und Zahl der Vor-ahndungen (Vorstrafen) blieb ein
signifikanter Effekt von r -.14 zugunsten der
TOA-Fälle bestehen.
32Rückfallstudien zum TOA (2)
- In der Untersuchung zum Projekt Handschlag in
Lüneburg wurden von den 91 TOA-Fällen
(Körperverletzungsdelikte) 56 gegenüber 82 der
Vergleichsgruppe formell wegen Körperverletzung
Verurteilter (n 60) rückfällig (vgl. Busse, J.
(2001) Rückfall-untersuchung zum
Täter-Opfer-Ausgleich. Jur. Diss. Marburg 2001,
S. 138). - Die beiden Untersuchungsgruppen sind weitgehend
vergleichbar (jedoch geringfügig weniger
Vorstrafen und gef. KV in der TOA-Gruppe).
Selektionseinflüsse sind nicht ganz
auszuschließen.
33Rückfallstudien zum TOA (3)
- Eine Rückfalluntersuchung zum Außergerichtlichen
Tatausgleich (ATA) in Österreich zeigte, dass von
470 ATA-Fällen bei Erwachsenen nach 3 Jahren bei
Ersttätern 10, bei Vorbestraften 30 betrug. - Bei zu Geldstrafe Verurteilten betrugen die
entsprechenden Rückfallquoten 22 (Ersttäter)
bzw. 47 (Vorbestrafte), vgl. Schütz, Die
Rückfälligkeit nach einem Außergerichtlichen
Tatausgleich bei Erwachsenen, ÖJZ 1999, S. 161
ff. - Selektionseffekte wurden allerdings nicht
kontrolliert.
343.10 Kritische Aspekte des TOA
- Zur Kritik am TOA vgl. Naucke ./. Rössner, Neue
Kriminalpolitik 2/1990, S. 13 ff. - Die Kritik betrifft die Mutlosigkeit im
Hinblick auf eine zu fordernde weitergehende
materiellrechtliche Entkriminalisierung (Naucke)
- andererseits betont Rössner die qualitativ
andere, das mit einer Übelszufügung verbundene
klassische Strafrecht transzendierende Sichtweise
des TOA.
35- Weitere kritische Aspekte beziehen sich auf die
Gefahr des net-widening, z. B. wenn der TOA/die
Wiedergut-machung nur als zusätzliche Sanktion
neben die klas-sischen, z. T. eher repressiven
Sanktionen (z. B. den Jugendarrest) treten. - Stichwort Sanktionscocktail
- Auch wird der TOA in Anbetracht der insgesamt
gesehen relativ wenigen Fälle (insbesondere im
Ver-gleich zur gemeinnützigen Arbeit als
quantitativ be-deutendster Sanktion) als
sozialpädagogisches Alibi eines im Grunde
unveränderten Jugendkriminalrechts gesehen.
36- Die Kritik erscheint allerdings überzogen und
empirisch nicht begründet. - Der TOA wird im Regelfall als Diversionsmaßnahme
angesehen und praktiziert (vgl. auch RL 4 zu 10
JGG). - Die Zahlen nehmen weiter zu und die spätere
Legal-bewährung von TOA-Teilnehmern ist gut
(geringe Rückfallquoten, vgl. Dölling/Hartmann/Tra
ulsen MschrKrim 2002, S. 185 ff. und oben). - Die Quote erneuter Auffälligkeit bei
jugendrichterlichen Sanktionen (gem. 10, 14,
15 JGG) insgesamt liegt bei 55, darunter 50
erneute Verurteilungen, jedoch nur 6 JS/FS ohne
Bewährung, vgl. Jehle/Heinz/Sutterer 2003, S. 57.
374. Betreuungsweisung
- Die Betreuungsweisung ist eine Art
Bewährungshilfe ohne die Verhängung einer
Jugendstrafe. - Sie schließt damit die Lücke im Falle eines
intensiven sozialpädagogischen Betreuungsbedarfs
für Fälle, bei denen mangels schädlicher
Neigungen oder Schwere der Schuld Jugendstrafe
nicht angezeigt ist. - Bei Heranwachsenden kommt sie als Alternative zu
der bei dieser Altersgruppe ausgeschlossenen
Erziehungsbei-standschaft in Betracht.
38Betreuungsweisung (2)
- Betreuungshelfer sind zumeist Jugendgerichtshelfer
(vgl. 38 Abs. 2 S. 6 JGG) oder
Sozialarbeiter/-pädagogen freier
Jugendhilfeträger, in geeigneten Fällen auch
Personen aus dem sozialen Umfeld des
Jugendlichen. - Die gesetzliche Höchstdauer von einem Jahr (vgl.
11 Abs. 1 S. 2 JGG) wird zumeist als zu lang
empfunden, empfohlen wird eine Dauer von 3-6
Monaten.
394.1 Anwendungspraxis und Formen der Betreuung
- Die Betreuungsweisung spielt in der Praxis der
Jugend-hilfe quantitativ eine eher untergeordnete
Rolle. - Zumeist wird sie in Kombination mit anderen
Sank-tionen, insbesondere mit der gemeinnützigen
Arbeit, angeordnet. - Die BW ist eine Domäne der Jugendämter (JGH). Sie
wird weitgehend flächendeckend angeboten, in 70
der Jugendamtsbezirke durch die JGH
(ausschließlich oder zusätzlich durch einen
freien Träger), in 20 der Bezirke nur durch
freie Träger (1994). - Die tatsächliche Dauer liegt ganz überwiegend bei
6-12 Monaten
404.2 Empirische Befunde zur Evaluation
- Die Betreuungsweisung ist dem Jugendarrest in
spezialpräventiver Sicht überlegen.
415. Soziale Trainingskurse
- Der Soziale Trainingskurs ist inhaltlich
weitgehend identisch mit der erzieherischen
Gruppenarbeit i. S. v. 29 II SGB VIII. - Es handelt sich um eine Maßnahme zur Förderung
Jugendlicher durch soziales Lernen in der Gruppe
auf der Grundlage eines gruppenpädagogischen
Konzepts. - Die Dauer der Kurse beträgt in der Regel 3-6
Monate.
425.1 Anwendungspraxis
- Die Teilnehmerzahlen bzgl. des STK sind in den
1980er und 1990er-Jahren deutlich angestiegen. - Für Mecklenburg-Vorpommern ergab sich nach einer
Studie von Schwerin-Witkowski (2003), dass seit
1995 eine flächendeckende Angebotsstruktur
gegeben ist. - Interessanterweise hat sich die Trägerschaft
entspre-chend des Subsidiaritätsprinzips des 4
SGB VIII zu den Freien Trägern hinentwickelt, die
1999 die Ange-bote des STK ausschließlich
vorhielten.
43- Die Zahl der jährlich durchgeführten STK hat sich
erheblich gesteigert (bei den Trägern, die für
1994 und 1999 Angaben machen konnten um 57). - Noch deutlicher fiel der Zuwachs von Teilnehmern
an einem STK in Mecklenburg-Vorpommern aus (
66). - Nach der bundesweiten Erhebung von
Dünkel/Geng/Kirstein (1998, S. 238) kann man
davon ausgehen, dass 7-10 der gerichtlich
sanktionierten Jugendlichen und Heranwachsenden
zur Teilnahme an einem Sozialen Trainingskurs
verurteilt werden.
44Angebotsverteilung der sozialen Trainingskurse im
Bundesländervergleich
455.2 Inhaltliche Ausgestaltung von Sozialen
Trainingskursen
- Es werden themenbezogen strukturierte oder mehr
erlebnispädagogische Methoden praktiziert, häufig
werden beide miteinander verbunden (vgl. das
Ablaufschema eines typischen STK).
46Idealtypische Darstellung von Zielen und Methoden
eines sozialen Trainingskurses
- Zielgruppe
- keine Ersttäter
- keine Schwerstkriminalität
- Wiederholungstäter, die im anstehenden Verfahren
Arreststrafe (oder Jugendstrafe) befürchten
müssen - Ziele
- Direkte persönliche Konfrontation mit
bisherigenStraftaten - Vermittlung neuer Handlungs- und
Problemlösungs-strategien - Erste Erfahrungen eigenverantwortlicher
Alltagsbewältigung
47- Methoden
- Soziale Gruppenarbeit
- Erlebnispädagogik
- Soziales Lernen durch
- Gruppendynamische Übungen,
- Gruppen- und Einzelgespräche,
- Planspiele,
- Videoarbeit (Feed back/Videoanalyse),
- alternative Freizeitgestaltung und
- Teilnahme am dreitägigen pädagogischen
Intensivwochenende mit Abenteuer- und
Erlebnischarakter
48Idealtypische Darstellung des Ablaufschemas eines
Sozialen Trainingskurses
495.3 Empirische Befunde zur Evaluation des
Sozialen Trainingskurses
- Vgl. Kraus/Rolinski in MschrKrim 1992, S. 32 ff.
- die Rückfallquote ist nicht höher als bei anderen
ambulanten Maßnahmen und eher geringer als beim
Jugendarrest.
506. Gemeinnützige Arbeit Anwendungspraxis
- Bis 1990 wurde die gemeinnützige Arbeit bereits
als Weisung häufig angewandt. Sie wurde
weitgehend schon in den 1960er und 1970er Jahren
entwickelt. - Angesichts der Kritik der Rspr. hat der
Gesetzgeber 1990 auch die Arbeitsauflage
eingeführt, die als reine Denkzettelstrafe die
erzieherischen Bedürfnisse bzgl. des
Arbeitsverhaltens nicht voraussetzt (vgl. hierzu
schon Vorlesungsübersicht Nr. 7/8). - In quantitativer Hinsicht hat die Arbeitsauflage
eine herausragende Stellung erlangt und betrifft
mehr als ein Drittel aller verurteilten
Jugendlichen und Heran-wachsenden.
51Gemeinnützige Arbeit Anwendungspraxis (2)
- Probleme bereitet die häufiger notwendige
Betreuung bei der Arbeit. - Jugendliche mit Arbeitsschwierigkeiten, Problemen
des Durchhaltevermögens etc. benötigen eine
intensive sozialpädagogische Begleitung, die von
der öffentlichen Jugendgerichtshilfe (JGH) nicht
immer gewährleistet zu sein scheint. Insoweit
sind freie Träger als Vermitt-ler und als
Arbeitseinsatzstelle geeigneter.
527. Chancen und Risiken der neuen ambulanten
Maßnahmen
- Chancen
- Sozialpädagogisch konstruktiver Umgang mit
Jugendkriminalität - die Zielsetzung des JGG der Befähigung zum
Legalverhalten wird durch die NAM am besten
verwirklicht - Zurückdrängung des sozialpädagogisch
zweifelhaften Jugendarrests.
53- Risiken
- Gefahren eines net-widening ? Notwendigkeit der
rechtsstaatlichen Begrenzung ambulanter
Maß-nahmen - z. B. Höchstzahl für Stunden gemeinnütziger
Arbeit - Prinzip der Verhältnismäßigkeit auch bei
erzieherischen Sanktionen - NAM als bloßes Alibi einer weitgehend
repressiv-erzieherisch orientierten Justiz? (vgl.
Fallzahlen und Bedeutung der gemeinnützigen
Arbeit als Denkzettel-sanktion).
54Die Bedeutung der Neuen ambulanten Maßnahmen in
der jugendstrafrechtlichen Sanktionspraxis in
Mecklenburg-Vorpommern
558. Reformperspektiven
- Abschaffung des Jugendarrests und Ersetzung durch
die NAM? - Ergebnisse der Befragung von Jugendrichtern,
Jugendgerichtshelfern und freien Trägern der
Jugendhilfe (vgl. Dünkel/Geng/Kirstein 1998) - Die Jugendrichter sehen die NAM, insbesondere
auch den STK, zwar sehr positiv, im Gegensatz zu
Mitarbeitern der freien Jugendhilfe,
eingeschränkt auch der JGH (die in dieser Frage
gespalten ist), möchten sie auf den Jugendarrest
als sanktionspolitische Option aber nicht
verzichten.
56Der soziale Trainingskurs stellt eine
Alternative zu freiheitsentziehenden Sanktionen
dar und kann in der Praxis den Jugendarrest
ersetzen.
Der soziale Trainingskurs stellt eine
Alternative zu freiheits- entziehenden Sanktionen
dar und kann in der Praxis den Jugendarrest
ersetzen
57Der soziale Trainingskurs macht den Jugendarrest
kriminalpolitisch entbehrlich, d. h. im Falle der
flächen-deckenden Einrichtung des sozialen
Trainingskurses kann der Jugendarrest abgeschafft
werden.
58Die Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs
sollte notfalls auch mit Ungehorsams-/Beugearrest
erzwungen werden können.
599. Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich in
anderen europäischen Ländern
- England/Wales
- Gemeinnützige Arbeit (community service, 1972)
- Mediation (1970er Jahre)
- Reparation order (1998)
- Frankreich
- Action civile
- Opferhilfe (aide aux victimes)
- Médiation pénale
60TOA in anderen Ländern
- Finnland
- Griechenland (2007)
- Nordirland (2001)
- Familiengruppenkonferenzen
- Österreich
- Außergerichtlicher Tatausgleich, 1988 im
Jugenstrafrecht,1993 im Erwachsenenstrafrecht) - Tschechien (2003)
61Lektüreempfehlung
- Dünkel, F., Geng, B., Kirstein, W. (1998)
Soziale Trainingskurse und andere neue ambulante
Maßnahmen nach dem JGG in Deutschland.
Mönchengladbach Forum-Verlag. - Dünkel, F., Scheel, J., Schäpler, P. (2003) Die
jugendstrafrechtliche Sanktionspraxis in
Mecklenburg-Vorpommern. Zeitschrift für
Jugendkriminalrecht und Jugendhilferecht 14, S.
119-132. - Schwerin-Witkowski, K. (2003) Entwicklung der
ambulanten Maßnahmen nach dem JGG in
Mecklenburg-Vorpommern. Mönchengladbach
Forum-Verlag.
62Ende!
Vielen Dank! ? ? ?
Honoré Daumier Les Parlementaires, 1848, Musée
dOrsay, Paris