Title: Ideengeschichtliche Hintergr
1Ideengeschichtliche Hintergründe der
Finanzkrise und neue OrientierungshorizonteEine
wirtschaftsethische Reflexion
Peter Ulrich
VCU-Jubiläumstagung 16. Mai 2009
Prof. Dr. Peter Ulrich
2Finanz-, Wirtschafts- und Mentalitätskrise?
- Es begann als Finanzkrise, wuchs sich dann zur
Wirtschaftskrise aus und wird mittlerweile von
vielen als tiefergehende soziale, vielleicht auch
politische Wendemarke gesehen. () Die hier
verfochtene These ist, dass wir einen
tiefgreifenden Mentalitätswandel erlebt haben und
dass jetzt, in Reaktion auf die Krise, wohl ein
neuerlicher Wandel bevorsteht. - Ralf Dahrendorf (Tages-Anzeiger, 30. April 2009)
Prof. Dr. Peter Ulrich
3Übersicht
- 1. Herausforderung Themenwechsel des
Fortschritts? - Kontext Die Grosse Transformation (in Praxis
und Theorie) - Tiefenstrukturen Die Metaphysik des Marktes
- Fortschrittshorizont Zivilisierung der
Marktwirtschaft -
Prof. Dr. Peter Ulrich
4Symptome einer moralisch enthemmten
Wirtschaftsdoktrin
- Investoren Gier nach maximaler Rendite
- ? Denkzwang als Sachzwang ?
- Corporate Governance Shareholder-Value-Doktrin
- ? Standards guter Unternehmensführung ?
- Geschäftsmodelle Risiken verschleiern,
verbriefen, verstreuen - ? Greater Fool Theory des Marktes ?
- Manager abgehobene Gehaltsansprüche
- ? anständig Geld verdienen statt Geld
anständig verdienen ?
Prof. Dr. Peter Ulrich
5Entgrenzte Vorteilsmaximierung
- Heutiges Wirtschaftsleben
- ausser Rand und Band?
- gesunde zwischenmenschliche
- Grenzen? Verbindlichkeiten?
Prof. Dr. Peter Ulrich
6Der Marktrand der Ordoliberalen
dass der Marktrand, der Marktrahmen, das
eigentliche Gebiet des Menschlichen ist,
hundertmal wichtiger als der Markt selbst. Der
Markt selber hat lediglich eine dienende
Funktion. () Der Markt ist ein Mittel zum Zweck,
ist kein Selbstzweck, während der Rand eine Menge
Dinge umfasst, die Selbstzweck sind, die
menschliche Eigenwerte sind. Alexander Rüstow
(1961)
Prof. Dr. Peter Ulrich
7Magisches Dreieck vernünftigen Wirtschaftens
Prof. Dr. Peter Ulrich
8Erste Kernthese Orientierungskrise
- Im Zentrum der gegenwärtigen Orientierungskrise
- steht das
- unklar gewordene Verhältnis
- zwischen der Marktwirtschaft (System) und der
Gesellschaft (Lebenswelt), - in der wir leben möchten.
Prof. Dr. Peter Ulrich
9Themenwechsel des Fortschritts
- Die Geschichte schreitet voran, indem sie das
Thema wechselt Eines Tages wachen Menschen auf
und bemerken, dass, was gestern wichtig war, was
sie beschäftigte und zerstritt, nicht mehr
dieselbe Bedeutung hat. Wir reiben uns die Augen
und entdecken, dass wir das Problem, das uns in
der letzten Nacht wachhielt, nicht dadurch lösen,
dass wir noch mehr oder besseres dazu tun,
sondern dadurch, dass wir uns einem anderen
Problem zuwenden - Ralf Dahrendorf Die neue Freiheit (1980)
Prof. Dr. Peter Ulrich
10Die Grosse Transformation
Grund, warum die Beherrschung des
Wirtschaftssystems durch den Markt von ungeheurer
Bedeutung für die Gesamt- struktur der
Gesellschaft ist sie bedeutet nicht weniger als
die Behandlung der Gesellschaft als Anhängsel des
Marktes. Die Wirtschaft ist nicht mehr in die
sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die
sozialen Beziehungen sind in das
Wirtschaftssystem eingebettet. Karl Polanyi
(1944/1978)
Prof. Dr. Peter Ulrich
11Zweite Kernthese Gedankenbett jeder
denkbaren Marktwirtschaft
- Jede Ausgestaltung der Marktwirtschaft ist
unausweichlich in ein wirtschaftsethisches und
politisch-philosophisches Gedankenbett
eingebettet. - Es gibt kein von ethischen und politischen
Voraussetzungen freies marktwirtschaftliches
System!
Prof. Dr. Peter Ulrich
12Aristotelische Trias der praktischen Philosophie
Wo bleibt die fundierte Kritik an der
Wissenschaft der politischen Ökonomie, deren
Lehrbücher doch die Drehbücher der gegenwärtigen
Krise sind? Frankfurter Allgemeine Zeitung
(März 2009)
Prof. Dr. Peter Ulrich
13Metaphysik des freien Marktes
Klassik (altliberal)
Neoklassik (neoliberal)
Invisible hand Soziale Harmonie Voraussetzung
Laisser faire in der Marktwirtschaft
Laisser faire in der Marktwirtschaft
Soziale Harmonie Folge des freien Marktes ?
Prof. Dr. Peter Ulrich
14Harmonies économiques (Frédéric Bastiat 1855)
- Ich möchte die Harmonie der göttlichen Gesetze
aufzeigen, die die menschliche Gesellschaft
beherrschen. - Ich glaube, dass Er, der die materielle Welt
geordnet hat, auch die Ordnung der sozialen Welt
nicht auslassen wollte. Ich glaube, dass Er die
frei Agierenden ebenso zu kombinieren und in
harmonische Bewegung zu setzen wusste wie die
leblosen Moleküle. (...) Ich glaube, es ist für
die allmähliche und friedliche Entwicklung der
Menschheit ausreichend, wenn diese Tendenzen
ungestörte Bewegungsfreiheit erlangen.
Prof. Dr. Peter Ulrich
15Ethische Vernunft vs. ökonomische Rationalität
Ethische Vernunft normative Logik der Zwischenmenschlichkeit gerechtigkeitsbasiert (es gilt, was legitim ist) intersubjektive Verbindlichkeiten unbedingte wechselseitige Achtung und Anerkennung der Individuen als Personen gleicher Würde Moralprinzip zivilisierte Marktwirtschaft Ökonomische Rationalität normative Logik des Vorteilstausches macht- und interessenbasiert (es zählt, was mir nützt) Interesse an privater Erfolgsmaximierung vorteilsbedingte Kooperation zwischen eigennützigen, wechselseitig desinteressierten Individuen Marktprinzip totale Marktgesellschaft
16Politischer Liberalismus (John Rawls)Zweistufige
Grundstruktur
Universale Grundsätze des Zusammenlebens in
gleichberechtigter Freiheit (res publica)
Republikanische Mitverantwortung
Prof. Dr. Peter Ulrich
17Dritte Kernthese Sozialer Fortschritt in
bürgerliberaler Perspektive
-
- mehr emanzipatorische Gesellschaftspolitik
- als Voraussetzung für
- weniger kompensatorische Sozialpolitik
- in Absicht auf die grösstmögliche reale Freiheit
aller Bürgerinnen und Bürger!
Kurzformel
Wirtschaftsbürgerrechte
Prof. Dr. Peter Ulrich
18Soziale Marktwirtschaft bürgerliberal
interpretiert
Es wird kaum bestritten, dass in der nächsten
Phase der Sozialen Markt-wirtschaft
gesellschaftspolitische Probleme vor die
ökonomischen treten werden. () Nach der Lösung
des Produktionsproblems im Rahmen einer
vollbeschäftigten Wirtschaft verschiebt sich der
Aufgabenbereich der Sozialen Marktwirtschaft. Sie
muss künftig als Politik einer freien
Gesellschaft begriffen werden. Alfred
Müller-Armack (1960)
Bisher haben wir überwiegend Wirtschaftspolitik
getrieben nun aber heisst es für uns,
Gesellschaftspolitik zu treiben. Wilhelm Röpke
(1944)
Prof. Dr. Peter Ulrich
19Zivilisierung der Marktwirtschaft mit Bürgersinn
Wilhelm Röpke (1958) postuliert einen echten
Bürgersinn, verstanden als esprit civique, der
ihn den einzelnen Bürger an das Ganze bindet
und seinem Appetit d.h. Egoismus Grenzen setzt.
Nun liegt aber zweifellos in dieser Ideenwelt
eine Kraft, die den Liberalismus in einem
dialektischen Prozess immer wieder über sich
selbst hinauszutreiben strebt. Diese Kraft ist
der dem Liberalismus wesentliche Gedanke der
Selbstbefreiung des Menschen durch Appell an die
Ratio die Abwerfung von Bindungen, die
Emanzipation des Menschen und die Herstellung
seiner Autonomie. (Röpke 1947)
Prof. Dr. Peter Ulrich
20Politisch-kultureller Liberalismus
Wer jetzt auch noch den Liberalismus als eine
primär wirtschaftliche Anschauung begreifen will,
ist selbst in einer ökonomistischen Einengung
befangen, die heute vollkommen überholt
erscheint. () Der politisch-kulturelle
Liberalismus () ist das Primäre und der
wirtschaftliche Liberalismus () etwas
Sekundäres. Röpke (1944)
Dabei werden wir bemerken, nicht ohne
Erschrecken, wie weit wir alle bereits in die
Denkgewohnheiten einer wesentlich unbürgerlichen
Welt hinab gezogen sind. Dass das vor allem für
die Nationalökonomen selber gilt, haben wir
bereits bemerkt, als wir von ihrer Neigung
sprachen, sich arglos einem Denken in Geld- und
Einkommensströmen hinzugeben Röpke (1958)
Prof. Dr. Peter Ulrich
21Republikanisches Wirtschaftsbürgerethos
integer sein sein Wirtschaftsleben
(Erfolgsstreben) nicht vom Selbstverständnis als
guter Bürger abspalten, sondern in dieses
integrieren
- für Unternehmen Corporate Citizenship
- im Markt Geschäftsintegrität
- in der Gesellschaft Mitverantwortung für die
res publica -
Prof. Dr. Peter Ulrich