Title: Wolfgang Wildgen (Bremen) Identit
1Wolfgang Wildgen (Bremen)Identitätskonstrukte
und Kreol-Genese(am Beispiel von Martinique)
- Vortag am 29.06.2007, 11 30 bis 1300 im
Colloquium Linguisticum Africanum - der Universität Frankfurt
2Gliederung
- 1 Einleitung
- 2 Die Dynamik von Kreolsprachen (am Beispiel des
Kreols von Martinique) - 3 Typische Eigenschaften des Kreols der
Französischen Antillen - 4 Gibt es eine kreole Semantik hinter der
Oberfläche des von kreolen Autoren verwendeten
Französischen? - 5 Modelle der Sprachmischung
- 6 Der Kampf um eine kulturelle Identität
Négritude und Créolité - 7 Kulturelle Evolution und Evolution der Sprache
3Identität und Identitätskonstrukte
- Die Identität besteht im Kontext des Themas nicht
zwischen Gegenständen (die in allen Attributen
übereinstimmen), sondern zwischen Personen,
sozialen Gruppen (Sprach- und Kulturgemeinschaften
) und gilt für so abstrakte Größen wie Sprachen
(langues) und Kulturen. Beginnen wir mit den
Personen. Sie können sich in der Zeit verändern
(ihre Identität verschieben), in Abhängigkeit von
Situationen verschieden handeln (so als ob sie
verschiedene Personen wären). - Eine Person, die unfrei ist und sich dem Willen
anderer beugen muss, z. B. ein Gefangener oder
ein Sklave, ist in seiner Identität bedroht oder
er verliert diese. Damit verfügen wir über ein
erstes operables Merkmal Freiheit und
Eigenverantwortung der Person.
4Kollektive Identitäten
- Wenden wir nun diese Kriterien der Identität auf
Personengruppen (z. B. Familien, Geschwister,
Freundesgruppen) oder auf ethnische, religiöse
und soziale Gemeinschaften an, so muss die
Identität der Gruppe kumulativ aus den
Identitäten der Personen resultieren, wobei
allerdings deren individuelle Freiheit und
Verantwortung eingeschränkt wird. Als
Kompensation mag eine Gruppenidentität entstehen,
aus der wiederum die einzelnen Elemente der
Eigenbestimmung und der Stabilisierung ihres
Selbstbildes gewinnen können. Kollektive
Identitäten sind so gesehen übersummativ, wie die
Gestaltpsychologen sagen würden. Dabei ist es
wichtig zu wissen, ob die Individuen die Summe
aktiv bestimmen können oder ob sie (passiv) von
der kollektiven Identität bestimmt werden. - In jedem Fall ist diese Identität eine
Konstruktion (vieler oder weniger Mitglieder). Im
Gegensatz zur materiellen und personalen
Identität ist sie in weit geringerem Maße von der
(materiellen bzw. psychischen) Natur bestimmt
(sie ist allerdings selten rein fiktiv).
5Identität symbolischer Formen
- Die Sprache und die Kultur (d. h. alle
symbolischen Formen und Medien der Gemeinschaft)
sind einerseits Instrumente, andererseits
Produkte (Endergebnisse) der Konstruktion
kollektive Identität. Diese Janusköpfigkeit
macht die begriffliche Analyse von Sprache und
Kultur so schwierig. - Im Falle kreoler Kulturen, die wir vorerst als
die massive Zusammenfügung vieler Personen,
Personengruppen mit unterschiedlichen Sprachen
und Kulturen verstehen wollen, scheint zuerst ein
Verlust, eine Schwächung personaler Identitäten
(oder der Identitäten kleiner Gruppen wie
Familien) vorzuliegen.
6(No Transcript)
7Karte der Karibik
Detailansicht
8Basissituation der Antillen Mitte des
17. Jahrhunderts
- Ein Rest verstreuter und bedrängter Indianer lebt
auf der Insel (viele werden getötet, sind an
Krankheiten gestorben oder auf benachbarte Inseln
geflüchtet). - Ein gemischter Haufen europäischer Seeleute
(Männer) verlässt die Schiffe, auf die sie
teilweise gepresst wurden, und siedelt auf der
Insel. Später kommen Funktionsträger (Missionare,
Administratoren), Soldaten und weiße Siedler
hinzu. - Eine Gruppe in Westafrika gefangener Sklaven,
häufig Kinder und Minderjährige, wird in die
Lebens- und Arbeitsgemeinschaft (ganz unten)
eingefügt.
9- In der indianischen Population gibt es Träger
eines kulturellen Wissens (erfahrene Erwachsene,
Alte), das für das Überleben in der neuen
Ökologie wichtig ist. Sie prägen etwa Techniken
des Fischens, des Anbaus zur Selbstversorgung,
der Navigation im Inselbereich usw. - Die europäische Population bringt Teile ihrer
Sozial-struktur (der Feudalgesellschaft des 17.
Jahrhunderts) mit, insbesondere Priester, die
eine Missionierungs-aufgabe verfolgen, und
Administratoren, die in Europa Bericht erstatten
sollen. Diese kulturellen Muster (etwa die
soziale Schichtung und Religion der europäischen
Bevölkerung) werden der neuen Gesellschaft
willentlich aufgeprägt. Es entsteht insofern ein
Abklatsch der ländlichen Feudalstruktur in den
Westprovinzen Frankreichs.
10- Die Sklavenpopulation hat den größten kulturellen
Verlust, insbesondere wenn Familien- und
Sippenzusammenhänge zerstört wurden, oder wenn
die jugendlichen Sklaven wegen der fehlenden
Initiation nur ein bruchstückhaftes kulturelles
Wissen mitbringen (es fehlen die Alten als
Gedächtnis der oralen Kultur). Außerdem entsteht
über den Sklavenhandel eine gewollte oder
ungewollte Zufallsmischung von Personen aus sehr
verschiedenen Sprachen und lokalen Kulturen.
11Anteil der einzelnen Gruppen an der Konstruktion
einer kreolen Identität
- Sehr begrenzt bleibt der Einfluss der Indianer
(wegen ihrer geringen Anzahl). Immerhin zeigt das
Lexikon des Fischfangs, des Bootsbaues und der
Küche in Martinique deutliche Spuren des
Einflusses. - Durch den massiven Sprach- und Kulturverlust der
schwarzen Sklaven ist der kulturelle Einfluss
anfangs gering. In dem Maße, wie ihre Zahl
anwächst und schließlich dominiert (ab Ende des
17. Jahrhunderts) und indem lokale afrikanische
Gemeinschaften entstehen, wird ihr Einfluss auf
die Neukonstruktion der kollektiven Identität
immer stärker.
12- Der Einfluss der europäischen Bevölkerung ist
zuerst dominant er geht aber mit dem Entstehen
einer kreolen, d. h. nicht-europäischen Sprache
und Kultur zurück. Dabei bleibt zumindest den
oberen Schichten die europäische Sprache und
Kultur (z. B. die Frankreichs) als Alternative
die kreole Identität wird für diese Gruppe eine
(häufig erst in Frankreich bewusst werdende)
zweite Identität. In Martinique konnte sich etwa
die Schicht der Zuckerbarone als französischer
Adel fühlen, in Frankreich wurden sie aber als
Kreole wahrgenommen (vgl. Josephine und ihre
Rolle als Frau Napoleons und Kaiserin).
13Die Lehrmeinung zur Entstehung von Kreolsprachen
- Drei typische Entwicklungswege werden angenommen
- Typ 1 Jargon ? Kreol
- Typ 2 Jargon ? stabiles Pidgin ? Kreol
- Typ 3 Jargon ? stabiles Pidgin
?erweitertes Pidgin ? Kreol - (cf. Romaine 1988 117)
14Drei Phasen bei der Entstehung des Kreols
- Die Kontaktsituation Weiße karibische Indianer.
- Die Kontakte waren häufig wenig friedlich, da die
Kariben ein wehrhaftes Volk waren, das erst
einige Zeit vorher die Urbevölkerung der Arawaken
unterworfen hatte. Immerhin ist im Zusammenhang
von Missionierungs-versuchen wohl eine erste
Kontaktsprache entstanden. Die Kariben wurden
1658 von den Franzosen vertrieben und flüchteten
auf die Inseln Dominica und St. Vincent. In der
Zeit nach der französischen Inbesitznahme (1635)
bis zur Vertreibung könnte dennoch eine erste
Kontaktsprache (ein Jargon) entstanden sein.
15- Schon seit 1635 betrieben die Franzosen den
Sklavenhandel, der hauptsächlich von Senegal nach
St. Domingue verlief. 700 000 Sklaven wurden
allein zwischen 1673 und 1789 verkauft davon
600 000 nach St. Domingue, die anderen 100 000
nach Martinique, Guadeloupe und St. Christophe. - In der ersten Phase (ab 1635) hielten sich
zahlenmäßig die Weißen und Schwarzen in etwa die
Waage. In dieser Periode der Habitation, entstand
eine Ausgleichssprache, eine Koiné. Dabei wurden
die lockeren dialektalen Normen des Französischen
(im Wesentlichen Dialekte Westfrankreichs
zwischen Bordeaux und Picardie) aufgeweicht. - Im Kontext der frühen Missionierung entschied man
sich, diese in der (neuen) Mischsprache
durchzuführen. Bereits missionierte und auf den
Inseln geborene Sklaven dienten als Hilfslehrer.
Sie stellen den Keim der Konsolidierung der aus
heterogenen Quellen geformten Sprache dar, die im
17. Jh. zum Kreol wurde.
16- Mit dem Anwachsen der Sklavenimporte und der
Ausdehnung der Plantagenkultur wurden nicht nur
die Plantagenbesitzer sehr reich, das
Zahlenverhältnis verschob sich auch dramatisch.
Bereits 1745 zählte Martinique etwa 80 000
Einwohner, davon 65 000 Sklaven. Der Zuzug weißer
Arbeiter (petits blancs) kam zum Erliegen. Die
neue Sprachsituation war die, dass quasi
jedermann das Kreol beherrschte, die weiße
Oberschicht aber zweisprachig Kreol-Französisch
war.
17- Die Abschaffung der Sklaverei (am 23.05.1848)
erfolgte nach einem Aufstand noch bevor das
Dekret, das Schoelcher (1804-1893) eingebracht
hatte, am 4.11.1848 verabschiedet war. Die Folgen
waren zuerst eine Abwanderung der Schwarzen aus
den Plantagen in die Städte und dann die
Kontraktverpflichtung von Einwanderern aus Indien
und Ostasien. Der Code de lindigénat
(18.06.1887) zementierte aber den
Quasi-Sklavenstatus aller Nicht-Franzosen auf den
Inseln (er war bis zur Départementalisation 1946
und in Algerien bis zur Unabhängigkeit 1962 in
Kraft). Diese Periode änderte somit weder die
politische noch die sprachliche Situation. Das
Kreol blieb die Grundsprache und entwickelte sich
weiter.
Victor Schoelcher1804-1893
18- Die Départementalisation (1946) und die
Alphabetisierung (in Französisch) erzeugte eine
Stärkung des Französischen, das die
Schriftlichkeit und die Medien beherrscht und
Kriterium des sozialen Aufstiegs ist. (Die
Analphabetenrate sank unter 10 , d. h. fast alle
lernen Französisch.)
extrait de discours Aimé CÉSAIRE(Assemblée
Nationale Constituante, 12 mars 1946) Mesdames,
messieurs, les propositions de loi qui vont sont
soumises ont pour but de classer la Martinique,
la Guadeloupe, la Réunion et la Guyane française
proprement dite en départements français.Avant
même dexaminer le bien fondé de ce classement,
nous ne pouvons manquer de saluer ce quil y a de
touchant dans une telle revendication de vieilles
colonies.A lheure où, ça et là, des doutes sont
émis sur la solidité de ce quil est convenu
dappeler lEmpire, à lheure où l étranger se
fait lécho de rumeurs de dissidence , cette
demande dintégration constitue un hommage rendu
à la France et à son génie et cet hommage, dans
lactuelle conjoncture internationale, prend une
importance singulière.
19Das Kreol der Französischen Antillen
- Bereits in den Kommentaren des 17. Jh. wird auf
den Wegfall der Flexion hingewiesen. Relativ
differenziert stellt sich aber das Paradigma der
Personalpronomina dar. Wir vergleichen kurz das
Haiti- und das Guadeloupe-Kreol mit dem
Französischen
Franz. unbetont Franz. betont Haiti Kreol Guadeloupe Kreol
1 Pers. Sing. je moi moin moin, au
2 Pers. Sing. tu toi vou vou, ou
3 Pers. Sing. il lui li li, i
1. Pers. Plur. nous nous nou nou
2. Pers. Plur. vous vous nou, zot zo, zot
3. Pers. Plur. ils eux yo yo
20TMA-System
- Charakteristisch für viele Kreols ist die
Entwicklung eines eigenständigen Systems für
Tempus, Modalität und Aspekt (TMA). Das Kreol von
Guadeloupe hat das folgende System (vgl.
Hazaël-Massieux, 1996 248)
Aspekt
Tempus
i ka manjé(er isst gerade)
i manjé(er hat gegessen)
Neutrale Form
i té ka manjé(er aß gerade)
i té manjé(er hatte gegessen)
Vergangenheit
i ké ka manjé(er wird dabei sein zu essen)
i ké manjé(er wird essen)
Zukunft
Konditional i té ké manjé (er würde essen) i té ké ká manjé (er würde dabei sein zu essen)
21- Grammatikalisierung zu té, ka, ké
- Das té (ti) wird aus frz. étais (à) abgeleitet
- Beispiel (Mauritius) moi jétais à danser gt mo
té dansé gt mo ti dansé - Das ka wird kontrovers diskutiert. Chaudenson
favorisiert eine Ableitung aus être quà Inf.
Il nest quà venir er soll/muss nur kommen. - Das quà tritt in dieser Form noch in der
Übersetzung des Passions-berichtes auf und wurde
später zu ka als Morphem des Aspekts (durativ)
grammatikalisiert (Germain, 1980 101, nennt die
Funktion continuatif). - Da ké später als ka und nur dort, wo ka im System
stabilisiert ist, auftritt, leitet Chaudenson ké
aus ka ab. Die Realisierung des Futurs durch das
Hilfsverb aller ist ja auch im Französischen eine
Alternative zur futurischen Flexionsform. Es wird
ähnlich im Kreol verwendet moin a batte je vais
te battre (va gt a) im Laufe der Zeit setzt sich
das Futur in der Verbindung von ka (all)é gt ké
durch. Germain (1980 101) spricht von prospectif
futur.
22- Innerhalb des TMA-Systems gibt es klare
syntaktische Regularitäten. Die obligatorische
Reihenfolge der maximalen Realisierung ist té,
ké, kà alle anderen Kombinationen sind
ausgeschlossen (vgl. Bernabé, 1987 123). - In allen drei Fällen können wir die
Grammatikalisierung ursprünglich französischer
Wörter und Konstruktionen und der Organisation im
präverbalen Paradigma des TMA-Systems beobachten.
Das Kreol schafft eine grammatische Regularität,
die aber durchaus noch im Projektionsfeld der
Tendenzen im Französischen angesiedelt werden
kann. Unterschiede innerhalb der französischen
Kreolsprachen sind entweder auf Arten der
Selektion (vgl. Mufwene, 2001) oder auf
Substrat-Einflüsse (westafrikanische Sprachen im
Falle des atlantischen Kreols, Einflüsse aus
Madagaskar bei den Kreols des Indischen Ozeans)
zurückzuführen.
23- Präpositionen mit schwachem lexikalischen Gehalt,
wie à / de verschwinden und werden durch
gehaltvollere Präpositionen wie pour, avec,
ensemble avec ersetzt. Ortspräpositionen wie sur,
sous, die häufig bereits dialektal abgeschwächt
waren, werden aus komplexeren Bildungen
abgeleitet - en lair gt Guadaloupe anlé (sous)
- en haut gt Guadaloupe anho (sur)
- Konjunktionen wie et (und) werden aus verstärkten
Ausdrücken abgeleitet - et puis gt epi (und) oder durch die
funktionserweiterte Präposition avec
wiedergegeben.
24- Auffällig sind Verbalkomposita, die an serielle
Verbkon-struktionen in westafrikanischen Sprachen
erinnern (Chaudenson, 2003 380 ff. ist generell
skeptisch, was den Einfluss eines afrikanischen
Substrats betrifft, akzeptiert dies aber
zumindest für die karibischen Kreolsprachen).
Germain (1980 102) geht von einem héritage des
esclaves éburnéo-dahoméens aus. Er nennt als
Beispiele (ibidem) poté alé (emporter), voyé alé
(envoyer), couri alé (se précipiter), couri caché
(se cacher). - Insgesamt ergibt sich das Bild einer massiv aus
der Struktur der Zielsprache (der französische
Dialekt-Koiné des 17. Jh. auf den Inseln)
entwickelten Varietät mit Verfall der
Flexionsmor-phologie und Ausgleich dieses
Verlustes über Grammatikali-sierungsprozesse. Im
Prozesses der Entstehung neuer gram-matischer
Systemkomponenten wirken sowohl
Substrat-einflüsse als auch Selbstorganisationspri
nzipien allgemeiner Art.
25Kreole Semantik in französischen Texten?
- Interpretation eines Ausdrucks von Césaire durch
Jahn (1958 149) - der Baum, der die Kastanien aus dem Feuer holt
- Der Baum steht für die Grenze der Plantage, die
der Sklave bei der Flucht überschreitet. - Die Kastanie (marron) steht für die geflohenen
Sklaven, die im Urwald zu überleben versuchen. - Das Feuer steht für die Sklaverei, aus der man
sich befreien will. - Ähnliches zeigt Jahn für die Zeile Zwei und
zwei sind fünf1 und für Senghors Ausdruck
schwarze Milch. Es gibt quasi eine doppelte
Lektüre dieser Poesie - Der Europäer kann einige Passagen nicht wirklich
verstehen und sieht darin eine (opake) poetische
Metapher (wie sie im Surrealismus gang und gäbe
war). - Der Afrikaner/Inselbewohner der Karibik
erschließt das Gemeinte aus seiner Tradition - 1 Der Hintergrund ist die Konfiguration der
Marassa Zwillinge im Wodu mit den beiden
semantischen Oppositionen männlich-weiblich und
sterblich-todlos. Die quadratische Konstellation
hat ein Zentrum, das als Fünftes gilt.
26Modelle der Sprachmischung
- Das Superstrat dominiert lexikalisch und
syntaktisch. Dabei kommt es einerseits zum
Ausgleich dialektaler Varianten, andererseits zu
lexikalischen und grammatischen Innovationen, die
durch die Substratsprachen motiviert sind, aber
noch im Rahmen lektaler Variationen der
Superstratsprache liegen (selbst bei Verlust der
Verständlichkeit), - Das Superstrat liefert lediglich das lexikalische
Material, das aber anders segmentiert und
klassifiziert wird. Die Grammatik ist primär eine
Ausgleichsversion der Substratsprachen. So
gesehen wäre das Kreol eine typologische Varietät
der Substratsprachen. - Durch den unvollständigen Erwerb einer
Interlingua entsteht ein (morphologisch)
vereinfachtes Pidgin. Im Übergang zum Kreol (als
Muttersprache) elaboriert die Gruppe von Kindern
und Jugendlichen diese Sprache unter Nützung
einer angeborenen Sprachschöpfungs-kompetenz
(häufig auch Universalgrammatik UG genannt).
27Modell A
- Modell A macht das Kreol zu einem Dialekt (einem
patois in Frankreich) der Superstratsprache. Es
ist damit der Favorit derjenigen, welche eine
sprachliche und kulturelle Assimilation
anstreben. So wie die Dialekt-sprecher im Sog der
Großstädte ihre regionale Identität aufgeben,
erhofft man eine Lösung der sprachlichen und
kulturellen Andersartigkeit durch Anpassung. Die
Lang-lebigkeit des Kreols (seit dem 17.
Jahrhundert) und die tiefen Verständigungsbarriere
n sprechen zwar gegen diese Konzeption einer
kreolen Identität im Übergang zur Assimilation,
aber Sprachwechsel oder -verlust sind in der
Geschichte immer wieder anzutreffen.
28Modell B
- Modell B widerspricht zwar Modell C, ist aber mit
Modell A verträglich. Die zentrale empirische
Frage ist bei Modell B aus welchen
Sprach-Kulturen stammten die Sklaven. Für Haiti
stellt Alleyne (1996 21 f.) folgende kulturellen
Ausgangspunkte fest - 1681-1720 Dominanz der Ewe-Fon-Sprecher.
- 18. Jh. Ein großer Anteil der Sklaven stammt
aus Angola. - Arends (1995 208) gibt für Guadeloupe und
Martinique eine andere Zusammensetzung an - Zuerst werden Bantu-Sprecher aus der Region
Congo Angola eingeführt. - Später erfolgen Importe von Sklaven von der
Goldküste (Sprecher der Kwa-Gruppe). - Wieder später sind die Sprecher der Gbe-Gruppe
(Ewe-Fon) zahlreicher.
29Vergleich Kreol - Franz. - Fon
- Haiti-Kreol koku ale nã mase
- Fr.Struk. Koku gehen (frz. aller) zum (Präp.)
Markt (frz. marché) - Fon-Struk. Koku Verb
Nomen Postposition (zum) - (Das nã kann auch mit einem Verb im Fon in
Verbindung gebrcht werden dann wäre ale nã
eine serielle Verbkonstruktion.) - Haiti-Kreol koku ãba tab la
- Fr.Struk. Koku (ist) unter Tisch (frz.
table) (frz. la dem) - Fon-Struk. Koku (Verb) Tisch dem Postp.
(unter) - (Das nachgestellte la entspricht eher dem
Franz. Demonstrativ là in cette table là (der
Tisch dort) als dem Artikel. Insofern ist seine
Position doppelt motiviert.) - (cf. Lefebvre, 1986 287).
30Modell C
- Modell C ist im Prinzip ein Selbstorganisationsmod
ell, wobei kontrovers bleibt, ob dabei eine
angeborene Fähigkeit der Spracherzeugung (UG
universal grammar) oder lediglich die Emergenz
neuer Muster unter dem Einfluss der Mischung sehr
unterschiedlicher Systeme entscheidend ist. Unter
der ersten Hypothese, die Bickertons
Bioprogramm-Konzeption nahe legt, gäbe es
universale Tendenzen der optimalen Gestaltung von
Sprache, die beim Zurücktreten vorgegebener
tradierter Muster zum Tragen kämen. Eine
Konzeption der Optimierung ohne angeborene
Vorlagen hat Hjelmslev (1967) auf der Basis
seiner Studien zur sublogischen Struktur der
Kasussysteme (Hjelmslev, 1935) vorgeschlagen. Die
Optimierungshypothese ist somit von Chomskys
Sprachtheorie unabhängig.
31Optimierung nach Hjelmslev (1967)
- In Bezug auf das Mauritius-Kreol schreibt
Hjelmslev, dass das grammatische System (und dies
ist für ihn der Kern der Sprache) neu geschaffen
wurde, wobei das Material der verschiedenen
Sprachen genützt wurde. Dabei erreicht das Kreol
im Gegensatz zu den historisch gewachsenen
Sprachen einen neuen Grad der Optimalität des
grammatischen Systems. - Es ist aber a priori sehr wahrscheinlich, dass
die besonderen Bedingungen, unter denen eine
Kreolsprache entsteht, der Sprache erlauben, die
optimale Struktur zu erreichen oder sich dieser
zumindest entscheidend zu nähern. (Übersetzung
der Autor)
32Kritik der Bioprogramm-Hypothese Bickertons
- Die Bioprogramm-Hypothese setzt eine Formung der
Grammatik durch Kinder, denen kein ausreichendes
Erwachsenenmodell verfügbar ist, voraus. Wie
Unter-suchungen am Tok Pisin zeigen, verstärken
Jugendliche lediglich Sprachwandelstendenzen, die
bei ihren Eltern angelegt sind. Sie sind nicht
selbst der Ort ihrer Erzeugung. Die notwendige
Entstehung des Kreols aus einem Pidgin beim
Verlust der Ausgangsprachen, scheint auch nicht
allgemein zu gelten. Vielmehr sind multilinguale
Gemeinschaften in der Habitation und vermittelnde
mehrsprachige Personen der Ort der Kreolgenese.
33Aus dem Material vieler Sprachen kann ein neues
grammati-sches System entstehen, ohne dass diese
Entwicklung durch ein genetisches
(Hilfs-)Programm gesteuert wird.
- Sankoff und Laberge (1973) konnten Eltern und
ihre Kinder in der Entwicklung des Tok Pisin,
einer nach der Unabhängigkeit von Papua Guinea
zum Kreol (schließlich zur Nationalsprache)
entwickelten Kontaktsprache, beobachten. - Aus den Englischen by and by entstanden
folgende Formen - baimbai temporales Adverb vor dem Verb
- bai Futurindikator /em bai I go / ich werde
gehen - Reduzierung /em bi-i go / ich werde gehen
34Die Kinder folgen ihren Eltern in der Tendenz und
verstärken diese lediglich.
- Korrelation der Kinder und Eltern bei der
Akzent-reduktion der Futur-Markierung bai im Tok
Pisin. - vgl. Labov, 2001 425
35TMA-Systeme
- Der kontinuierlicher Hintergrund ? das berichtete
Geschehen ? das Mögliche, Zukünftige
Sprache Erzählzeit (ANTERIOR) Kont. Hintergrund (NON-PUNCTUAL) Futur/Möglichkeit (IRREALIS)
Sranan ben aus Eng.beenoder Port. ven e aus W.Afr. de oder Port. na go aus Eng. go sa aus Eng. shall
Haiti-Kreol té aus Franz. été ap(ré) aus Franz. après avá aus Franz. va
Juba-Arabisch kan(a) aus Arab. kana (sein) g/gi/ge/ga aus Arab. ga ad (sitzen) bi aus Arab. bidd (wollen)
Die TAM-Systeme von drei Kreol-Sprachen
36Négritude als Identitätsentwurf
- Der Begriff der Négritude entstand unter
Afrikaner und Antillenbewohnern in Paris Senghor
und Césaire sollen ihn geprägt haben. Für die
farbige Bevölkerung Martiniques sind aber die
Bewohner Guadeloupes näher an Afrika und somit an
der Négritude, da sie dunkler sind als sie
selbst. - Sich selbst sehen sie auch viel näher an
Frankreich als die früheren afrika-nischen
Kolonien Frankreichs, wie z. B. als den Senegal.
Auf der Skala einer Négritude sehen sie also
beide unter sich stehen und verstehen sich selbst
fast als kulturelle Weiße (die Kinder zeichnen
sich als Weiße mit blonden Haaren vgl.
Fleischmann, 1986 229). - Angelpunkt des Diskurses zur Négritude von
Martinique ist das Cahier dun retour au pays
natal von Aimé Césaire, in dem er nicht nur die
kulturelle Destruktion der Kolonialperiode,
sondern auch die enge Verbindung mit seiner
Heimat, den Antillen, und indirekt mit dem
Herkunftsland Afrika aufweist.
37Haiti als historische Vermittlung des Konstrukts
- Césaire hat als Vorbild die Befreiung von Haiti
nach dem Sklavenaufstand von 1791 und besonders
die tragische Figur ihres Generals Toussaint
Louverture gewählt, der von den napoleonischen
Truppen nach Frankreich verschleppt wurde. Auf
diesem Befreiungsweg, der Haiti ab 1805 zum
ersten dekolonialisierten Land mit afrikanischer
Bevölkerung machte, wurde der Bezug zu Afrika, zu
afrikanischen Religionen und Mythen, als
identitätsstiftend eingesetzt und die
Misch-Religion des Wodu wurde neben dem Kreol zum
Kennzeichen eines Neubeginns. An Wodu lässt sich
auch die Problematik solcher Misch-Identitäten
ablesen. - Die Vermischung von Christentum und Wodu geht
auch auf die Toleranz der meist bretonischen
Geistlichen in Haiti zurück. Nach deren
Vertreibung nahmen vagabundierende prêtres
savants, meist frühere Chor-Ministranten, deren
Aufgaben wahr und wurden somit zu den
Katalysatoren der Mischreligion, die außerdem dem
Einfluss der katholischen Kirche entzogen war.
38Die Hauptorishas
Orisha/Loa Bedeutung, Zuordnung Synkretismus Besonderheiten
Obatala Schöpfer Im Candomblé Christus (Nosso Sr. do Bonfim) Im Voodoo vergleichbar Damballah
Yemayá Mutter der Menschheit Im Candomblé Maria (Nossa Sra. das Conceiçaõ)
Shango Krieg Im Candomblé Hieronymus
Oshun Fruchtbarkeit Im Candomblé Maria (Nossa Sra. da Candeias)
Ogún Eisen, Werkzeuge, Gefängnis Im Candomblé Antonius Im Voodoo Ogoun
Quelle http//de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Ori
sha
39Créolité statt Négritude
- Das Pendant zur Négritude ist auf den Antillen
das Konzept der Créolité. Da sich die
Insel-Kreols sowohl in Bezug auf die Kolonial-
und Zielsprache als auch in Hinblick auf die
Zusammensetzung der afrikanischen Bevölkerung
unterscheiden, entspricht die Créolité zwar einem
geogra-phischen Zusammenhang, sie hat aber
gegenüber der Négritude folgende Nachteile - Es gibt keine Möglichkeit, auf eine vergangene
Hochkultur Bezug zu nehmen. Die kulturelle Basis
ist diejenige der Sklaven-Habitationen auf den
Plantagen, also eine Subkultur. Das bedeutet,
dass das Produkt der Mischkultur zur
orientierenden Norm erhoben wird. - Das Kreol ist primär eine linguistische Realität.
Da aber die Schulsprache jeweils Französisch,
Englisch ... ist und auch die Oberschicht prägt,
wird das Kreol kaum geschrieben/gelesen. Es kann
damit viele kulturelle Domänen nicht besetzen. In
der Konsequenz ist die Créolité einem Drift in
Richtung auf die Hochkultur, in Martinique in
Richtung auf die Metropole Paris ausgesetzt.
40Antillanité und Americanité
- Die Antillanité ist eine auf den Bereich der
Antillen begrenzte Americanité. Beispielsweise
ist Kuba in erster Linie ein Fall von
Americanité, da im Norden Kubas Siedler aus
Andalusien, Galizien und den Kanaren eine
sprachlich und kulturell neue Form geschaffen
haben. Kuba hat mit Martinique nur den Faktor
einer Emigration nach Amerika gemeinsam. Was
beide trennt, ist die Créolité. - Die kreole Solidarität verbündet Martinique avec
tous les peuples africains, mascarins, asiatiques
et polynésiens, qui relèvent des mêmes affinités
anthropologiques que nous notre créolité
(ibidem 33).
41Kulturelle Evolution und Evolution der Sprache
- Man kann sich die Frage stellen, ob diese Dynamik
der Neugestaltung von Sprachen und Kulturen nach
massiven Migrationen und Mischungen eine
grundlegende Kompo-nente in der Evolution
menschlicher Sprachen und Kulturen darstellt
(vgl. Wildgen, 2004). Wie wir andeutungsweise
gesehen haben, zeigen sich Tendenzen der
Grammatik-bildung in der Kreol-Genese besonders
deutlich diese bleiben aber im Rahmen dessen,
was wir aus der generellen Entwicklung von
Sprachen kennen. Damit ein evolutionär
relevanter, d. h. biologisch fixierbarer Effekt
entsteht, müssten dramatischere Effekte auftreten
und wir können uns fragen, ob die Dynamik der
Kreolsprachen zumindest Hinweise auf solche
Effekte liefert.
42Konkurrenz, Selektion und Adaptation
- Selektion aus dem strukturellen Angebot
vorhandener Sprachen. - Selektion bei der Integration der einzelnen
ausgewählten Aspekte, Elemente, Eigenschaften zur
Bildung eines optimalen Systems. - Ersteres beruht auf dem Willen und den
Präferenzen der Sprecher. - Letzteres ist eher ein hidden hand-Effekt wir
sprechen von Selbstorganisation. Man kann
annehmen, dass auch bei der Evolution der
Sprachfähigkeit jeweils verfügbare Optionen in
Konkurrenz standen und aus ihnen ausgewählt
werden musste. Die Selbstorganisationsmöglichkeite
n bei der Reorganisation der Auswahl waren vom
jeweiligen kognitiven Potential abhängig, das
sich mit dem Anwachsen des Gehirns (zwischen dem
Homo habilis and dem Homo sapiens) entscheidend
verändert hat.
43Aspekte der (biologischen) Selektion
- Gesten- versus Lautsprache,
- soziale Funktionen der Lautsprache versus
kognitive Funktionen der Lautsprache, - Integration von Handlungsplänen durch
Tanzen/Musik versus Integration durch Sprache
(mit narrativen und argumentativen Strategien). - Bei Konflikten zwischen diesbezüglich sehr
unterschiedlichen Subspezies erlaubten Vorteile
in der Kommunikations-fähigkeit deren Überleben
in der direkten Konkurrenz (siehe etwa die
Konkurrenz von Neandertalern und
Cro-Magnon-Menschen in Europa um 30 000 vor
heute).
44Evolutionäre Hyperzyklen oder der
Ziehharmonika-Effekt
- Die relativ schnelle Entwicklung der
Sprachfähigkeit und die noch schnellere soziale
Evolution der letzten 10.000 Jahre erfordern
einen sog. run away-Prozess (vgl. Wildgen, 2004
und 2006). - Die räumliche Ausbreitung erzeugt eine genetische
und auf das Verhalten bezogene Divergenz, die bei
längerer Dauer auch die Funktion von Sprache und
anderen symbolischen Formen verändern kann. - Die Krisensituationen, in denen die inzwischen
sehr unterschiedlichen Populationen wieder auf
engem Raum komprimiert werden und kooperieren
bzw. sich ausgleichen müssen, erzwingen eine neue
Synthese der in der Divergenz hervorgebrachten
Möglichkeiten. - Wenn der Prozess in ähnlicher Form wiederholt
wird, kann es zu einer sehr schnellen Evolution
von Verhalten und Gesellschaft kommen. Die
Abfolgen von Divergenz mit Variation und
Konvergenz mit der Synthese neuer Formen nennen
wir den Ziehharmonika-Effekt.
45Identitätskonstruktion und Speziesbildung
- Auch die Identitätskonstruktion kann mit der
Speziesbildung in Zusammenhang gebracht werden.
Treffen lang verstreut lebende und eventuell
biologisch divergierenden Unterarten aufeinander,
stellt sich die Frage Wer gehört zur eigenen
Spezies und wer nicht? Diese Entscheidung kann
sowohl das Fortpflanzungsverhalten steuern als
auch entscheiden, ob friedlich interagiert wird
oder ob der Krieg das Medium der Kommunikation
wird. Die Entfernung der heute beobacht-baren
sozialen und politischen Konflikte von denen in
der Steinzeit ist allerdings so fundamental, dass
man solche Analogien nur mit größter
Vorsicht/Skepsis heranziehen sollte. Eine
Erklärungslücke bleibt jedenfalls bestehen.
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