Title: "Schreibe,%20wie%20du%20sprichst"%20Sinn%20und%20Unsinn%20in%20der%20Vermittlung%20der%20Alphabetschrift
1"Schreibe, wie du sprichst"Sinn und Unsinn in
der Vermittlung der Alphabetschrift
- Klaus J. Kohler
- IPDS, Kiel
Vortrag im Symposium "Vom Schall zur Schrift und
umgekehrt" CAU Kiel, 5. Juni 2009
21 Erwerb sprachlicher Fertigkeiten
- Jedes Kind wächst in eine Sprachgemeinschaft
hinein und erwirbt deren Kommunikationsmittel
'Sprache'. - Bei diesem Spracherwerb spielt rhythmische
Strukturierung eine große Rolle - Kinderverse, Kinderlieder, Sprachspiele
3- Es 'war ein'mal ein 'Mann, der 'hatte 'einen
'Schwamm - 'Lirum 'larum 'Löffel'stiel
- 'Hoppe 'hoppe 'Reiter, 'wenn er 'fällt dann
'schreit er - Der 'Mond ist 'aufge'gangen
- 'Schlafe, 'Kindlein, 'schlafe
- 'Drei Chi'nesen 'mit dem 'Kontra'bass
- 'saßen 'auf der 'Straße 'und er'zählten 'sich was
4- Derartige Verse und Sprachspiele haben eine
enorme Bedeutung für die Sprachentwicklung des
Kindes - sie vermitteln über die regelmäßige rhythmische
Wiederkehr von Prominenzen die Gliederung des
Sprechstroms der Rhythmus hat eine - Führungsfunktion für Wahrnehmen Verstehen
- damit erleichtern sie das Herauslösen von Wörtern
- über Endreim und Assonanz oder initiale
Alliteration in Hebungen des Versmaßes fördern
sie ein Gespür für kleinere Lauteinheiten
innerhalb der Wörter - Lirum larum Löffelstiel
- nass Gass kalt Wald
5- Daher müssen solche Verse auch eine wichtige
Rolle in der vorschulischen Erziehung spielen - was sie auch in der Vergangenheit in erster Linie
im Elternhaus, aber auch im Kindergarten taten - diese spielerisch gesteuerte Spracherziehung ist
heute jedoch in weiten Schichten unserer
Gesellschaft obsolet, Kindergarten und
Kindertagesstätten bieten keinen Ersatz - damit entwickeln Kinder weithin keine Technik
mehr für lautliche Segmentation und Erkennen von
Gleichheit bzw. Verschiedenheit im Sprechstrom
6- Ín der Schule müssen Kinder die Fertigkeiten des
Sprechens, Hörens und Verstehens von mündlicher
Sprache ergänzen durch Schreiben, Lesen und
wiederum Verstehen von Schriftsprache - Übergang in das andere Kommunikationsmedium baut
auf den erworbenen Fertigkeiten im mündlichen
Sprachgebrauch auf - ist umso erfolgreicher, je besser das Fundament
der Sprech-, Hör- und Verstehensfertigkeiten ist
7- An dieser Stelle haben Linguisten und Pädagogen
furchtbar gesündigt - Linguisten durch die Geringschätzung der
sprachlichen Performanz gegenüber der in
meta-linguistischen Systemen verpackten Kompetenz - Pädagogen haben die systemlinguistische
Begrifflichkeit unreflektiert übernommen - insbesondere das Phonemkonzept
- es dominiert als phonologische Bewusstheit die
Diskussion der Lese-Rechtschreibschwäche - fördert phänomenales Verständnis nicht, sondern
verhindert es
82 Lesen und Schreiben
- Damit komme ich zum Schrifterwerb
- Alphabetschrift auf lateinischer Basis
- Ziel ist die schriftliche Darstellung von Wörtern
durch eine lineare Abfolge von Zeichen, die sich
auf distinktive lautliche Einheiten beziehen - um die Probleme des Schrifterwerbs zu verstehen,
muss man sich vergegenwärtigen, wie das Konzept
einer Alphabetschrift in der Menschheitsgeschichte
überhaupt entstanden ist
9- sie wurde nur einmal erfunden
- im semitischen Sprachraum
- alle anderen Alphabetschriften sind Adaptationen
der semitischen Alphabetschrift an die jeweiligen
Sprachsysteme - Devanagari des Sanskrit
- Griechisch
- gt kyrillisch der meisten slawischen Sprachen
- Latein
- gt Deutsch und die meisten europäischen Sprachen
und schließlich weltweit
10- Warum wurde Alphabetschrift nur einmal und
ausgerechnet im semitischen Sprachraum erfunden? - Lautstruktur der Wörter in diesen Sprachen
- der indigene Wortschatz ist so aufgebaut, dass
semantische Felder durch Wurzeln kodiert werden,
die drei Konsonanten in einer bestimmten Abfolge
enthalten - z. B. SCHREIBEN durch k t b im Arabischen
- die einzelnen Wörter eines semantischen Feldes
werden gebildet durch Einfügen von Vokalen und
Anfügen von Affixen
11- k'atab er schrieb
- y'iktib er schreibt, wird schreiben
- k'aatib Schreiber sg.
- k'ataba Schreiber pl.
- kit'aab Buch
- k'utub Bücher
- makt'uub geschrieben
- m'aktab Büro, Schreibtisch
- makt'aba Bibliothek
12- Somit ist eine enge Beziehung zwischen
semantischen Feldern und deren Kodierung durch
Konsonantenartikulationen gegeben. - Diese Beziehung ist für die sprachliche
Produktion und ihr Verstehen in den semitischen
Sprachen grundlegend. - Sie wird im Spracherwerb aufgebaut.
- Es war dann ein einfacher und naheliegender
Schritt, diese Beziehung im graphischen Bereich
abzubilden, also eine Schrift auf
konsonantischer, d.h. alphabetischer Basis zu
erfinden.
13- Dabei mussten den 3 Elementen einer jeden Wurzel
Zeichen so zugeordnet werden, dass alle Wurzeln
eindeutig abgebildet werden konnten - das führte zu einem Zeichenrepertoire für die
distinktiven Lauteinheiten der Sprache - Vokale /i/, /a/, /u/ und ihre Längen /ii/, /aa/,
/uu/ wurden zunächst nicht symbolisiert, sondern
mussten aus dem Kontext erschlossen werden - später fügte man Diakritika über bzw. unter den
Konsonantenzeichen für die verschiedenen Vokale
bzw. ihr Fehlen hinzu.
14- Keine andere Sprachenfamilie hat eine solche
semantisch-phonetische Struktur des Wortschatzes,
und damit war nirgendwo anders die Kodierung von
Wörtern durch eine Alphabetschrift so naheliegend
und trat deshalb auch nicht als autochthone
Entwicklung ein.
15- Die indogermanischen Sprachen haben durchaus
eingeschränkt etwas Vergleichbares - Ablaut, z,B. liegen lag gelegen
- nicht als Charakteristikum des gesamten
Wortschatzes, sondern in der Wortbildung und der
Flexion, vor allem im Verb - und hier konnte nicht das stets Gleichbleibende,
sondern nur das Verschiedene fokussiert werden
16- Der Erwerb der Alphabetschrift stellt daher im
Deutschen und anderen nicht-semitischen Sprachen
sehr viel höhere Anforderungen - phonetische Einheiten müssen auf anderen Wegen
als über die semantisch-phonetische
Strukturierung des Wortschatzes erst aufgebaut
werden - Darüber hinaus ist keine Alphabetschrift ein
"Schreiben, wie man spricht".
17- 4 Repräsentationsprinzipien, in unterschiedlicher
Gewichtung in verschiedenen Sprachen - Abbildung von Sprachlauten bunt, Entchen
- morphologische Prinzipien Kind Kinder,
Händchen - historische Prinzipien und
- einheitliche Verschriftung für Standardsprache
- dialektale Varianz wird ausgeblendet Spaß Bad
- ebenso stilistische er ist der, der der Sache am
meisten schadet - EŒs ÈdeùŒ dEŒ dŒ Èzaxe a Èmaestn ÈSaùdt
18- Das Kind muss beim Erwerb einer Alphabetschrift 4
Stadien durchlaufen - lautliche Segmentation von Wörtern als
Bestandteil des Spracherwerbs vor Lesen- und
Schreibenlernen, also in der vorschulischen
Erziehung - gestützt durch rhythmische und metrische Mittel
- die zusätzliche Stütze der Sprachstruktur der
semitischen Sprachen entfällt in allen anderen
19- Was aber dennoch bereits auf dieser Strufe
möglich ist, zeigt folgendes Beispiel eines
6-jährigen Kieler Mädchens einen Monat vor der
Einschulung.
20- Erlernen der Schriftzeichen
- feine graphische Unterschiede n m u
- Unterschiede in der Position b d p q
- Zuordnung von Schriftzeichen zu Lautsegmenten
- Erwerb der Orthographieregeln
- Auf allen Ebenen gibt es grundsätzlich Probleme.
- Wenn aber das Kind nicht spielerisch segmentieren
gelernt hat, wird es enorme Schwierigkeiten
haben, Schriftzeichen Lauteinheiten zuzuordnen
denn der Laut existiert für ein solches Kind gar
nicht.
21- Die Probleme potenzieren sich beim anschließenden
Erwerb der Orthographieregeln, die generell die
größten Schwierigkeiten bereiten. - Extreme Fälle erwerben keine Alphabetschrift mehr
- sondern einen konfusen Zeichenapparat für
gesprochene Wörter - was pädagogisch als Lese-Rechtschreibschwäche
oder in medizinischer Terminologie als
Legasthenie eingeordnet wird - diese Begrifflichkeit ist ein Sammelbecken für
ein weites Spektrum von Fehlleistungen im
Schrifterwerb
22- Die erziehungspolitisch aufgeladene Diskussion
darüber trägt nicht zur Aufhellung der Phänomene
bei - einerseits werden die Defizite als Syndrom einer
Entwicklungsstörung bei gleichzeitig normalem IQ
gesehen - ohne die vorschulische Vorbereitung und die
schulischen Verfahren des Schrifterwerbs
gleichzeitig zu evaluieren - andererseits haben die Experten selbst keinen
klaren Durchblick hinsichtlich der Bedingungen
des mündlichen und schriftlichen Spracherwerbs
23- Das wird offensichtlich, wenn man sich die
entwickelten Tests näher anschaut - z.B. Claudia Stock, Peter Marx, Wolfgang
Schneider, BAKO 1-4 Basiskompetenzen für
Lese-Rechtschreib-leistungen Ein Test zur
Erfassung der phonologischen Bewusstheit vom
ersten bis vierten Grundschuljahr - Es geht darin um das "Konstrukt 'phonologische
Bewusstheit im engeren Sinne' als Fähigkeit,
explizit mit sprachlichen Strukturen operieren zu
können, die weder semantische noch
sprechrhythmische Bezüge aufweisen" (p.37). - Ausarbeitung von Teilaufgaben auf dieser Basis.
24- Das Konzept phonologische Bewusstheit nimmt an
- Kinder haben bis zum Eintritt in die Schule in
ihrer natürlichen Sprachentwicklung das
phonologische System, d.h. die Phoneme einer
Sprache erworben - es geht im Lese- und Schreibunterricht nun darum,
dieses der Sprache des Kindes zugrunde liegende
System bewusst zu machen.
25- Das ist systemlinguistisch gedacht, aber keine
Realität - das Phonem ist ein metasprachliches Konstrukt
- es ist weder im Sprechen noch im Sprachverstehen
existent - nehmen wir die Äußerung
- Das ist eigentlich ganz guter Wein
- Èa)I)j)
26- sie ist verschieden vom unbestimmten Artikel in
- Das ist ein ganz guter Wein.
- in ein tendiert der Vokal zur Reduktion in
spektraler Dynamik und Dauer bis hin zu Elision - der Nasal wird ortsassimiliert an folgenden Kons
- in eigentlich langes palatales Residuum in Artik.
- Èa)I)j) Èa)e)N
27- Sie haben die Wörter eigentlich und ein nicht als
Phonemsequenzen wahrgenommen - /aIgntlIC/ vs. /aIn/
- sondern infolge feiner phonetischer Unterschiede,
die sich über eine Lautsequenz aIn legen - und ich habe nicht die Phonemsequenzen
intendiert, sondern die Wörter in einer
kontextuellen Realisierung
28- Wenn aber ein Phonemsystem für das Kind nicht
existent ist, kann man es auch nicht bewusst
machen - Deshalb sind die Übungstypen, die auf der Basis
dieses Konzeptes entwickelt wurden, nicht nur
nicht nützlich, sondern geradezu schädlich - Pseudowortsegmentierung skop, askletno
- Restwortbestimmung Ende gt nde, omta gt mta
- Phonemvertauschung Masse gt amsse, ilma gt lima
- Wortumkehr ral gt lar, Boot gt toob
29Ist dies schon Tollheit, hat es doch
Methode. Though this be madness, yet there is
method in't. W. Shakespeare, Hamlet II,2, Polonius
30- Hier sind Erwachsene am Werk
- die die Alphabetschrift beherrschen
- aus ihr eine Phonemsequenz ableiten
- und meinen, die Kinder könnten den umgekehrten
Weg gehen. - Das können sie aber nicht
- weil das Phonem keine Basis ist
- weil sie Segmentieren erst mühsam lernen müssen
- weil phonetische Unterschiede zwischen Wörtern
spielerisch in semantischer und rhythmischer
Einbettung erfassbar gemacht werden müssen.
31- Das Segment/Laut/Phonemkonzept in der
Unterrichtspraxis des Lesenlernens - fürdert auch lautierendes, statt flüssiges
Vorlesen - und stört schnelles stilles Lesen und
Textverstehen - das lässt sich nur korrigieren durch Einbeziehen
größerer Spracheinheiten als Einzellaute - Silbe
- längere prosodische Einheiten
- unter Berücksichtigung von Reim und Anlaut
- wie Christa Röber, Päd. HS Freiburg es praktiziert
323 Ausblick
- Die Diskussion um die Lese-Rechtschreibschwäche
hat die verschiedenen Ebenen vermengt und vor
allem die grundlegenden Beziehungen zwischen Laut
und Alphabetschrift und deren Erwerb überhaupt
nicht durchschaut. - Hier kann nur helfen, das versäumte spielerische
vorschulische Lauttraining durch rhythmische
Strukturierung in der Grundschule nachzuholen.
33- Aber auf längere Sicht muss die vorschulische
Sprech- und Hörerziehung wieder aktiviert werden - wenn es das Elternhaus in Doppelverdiener-haushalt
en ohne Großeltern nicht mehr leisten kann - müssen Kindergärten und Kindertagesstätten
einspringen, mit wesentlich besser ausgebildetem
Personal, als es heute zur Verfügung steht.
34- Es ist ein Nachdenken hinsichtlich der Aufgaben
der vorschulischen Erziehung notwendig, damit wir
gewährleisten, dass die nachwachsenden
Generationen mündliche und schriftliche
Kommunikation in ihrer Sprachgemeinschaft
angemessen beherrschen lernen.
35- Und wir dürfen natürlich nicht die Probleme der
Migrantenkinder vergessen, die weitgehend das
Deutsche nicht auf dem Niveau der Schulanfänger
beherrschen und möglicherweise nicht einmal in
ihrer zunächst gelernten Sprache firm sind - die also zwischen den Sprachen hängen
- zu den Problemen der Segmentation, der
Laut-Schriftzeichen-Zuordnung und der
Orthographie-regeln kommen noch die sprachlichen
Interferenzen - diesen Kindern können unsere derzeitigen
Unterrichtsverfahren nicht gerecht werden.
36- Wir müssen uns um die Sprach- und Sprecherziehung
in unserem gesamten Erziehungssystem gehörig
Gedanken machen, um junge Menschen besser auf das
Agieren in unserer Gesellschaft vorzubereiten, wo
mündliche und schriftliche Sprachkompetenz
unabdingbare Schlüsselfertigkeiten sind.
37- Dabei ist phonetisches Wissen über Sprech- und
Schrifterwerb für Lehrkräfte unbedingt
erforderlich - denn die Alphabetschrift ist am Schnittpunkt
zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. - zwischen Sprechen/Hören und Schreiben/Lesen.
- Mündlichkeit und Schriftlichkeit gehen eigene
Wege - aber sie überlappen in komplexer Weise
- in der Konzeption einer Alphabetschrift
- und vor allem in ihrer Vermittlung.
38- Dieser Übergang vom Schall zur Schrift und von
der Schrift zum Schall wird somit zum zentralen
Thema phonetischer Forschung und Lehre - IPDS Magisterarbeit 2003 unter meiner Betreuung
- Anke Linneweh
- Phonetische Aspekte beim Erwerb der
Alphabetschrift - Theoretische Überlegungen und empirische Befunde
zum Deutschen
39- So ordnet sich mein Thema ein in dieses
Symposium, das ein breites Spektrum phonetischer
Fragestellungen in Forschung und Anwendung an der
CAU präsentiert. - Die Philosophische Fakultät der CAU
- besitzt einen soliden Fundus in Forschung und
Lehre - zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der
sprachlichen Kommunikation - in den das Fachgebiet 'Phonetik' eng integriert
ist - und sie praktiziert seit langem intra- und
inter-fakultative Interdisziplinarität auf diesem
Gebiet. - Das folgende audiovisuelle Logo soll diese
phonetische Vernetzung zum Ausdruck bringen.
40Vom Schall zur Schrift
und umgekehrt
?UntH È?UmgkeùŒtH
Mündlichkeit und Schriftlichkeit der Sprachen in
der Mensch-Mensch- und der Mensch-Maschine-Kommun
ikation